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In der Ausgabe Nr. 66 der Zeitschrift "Malmoe" wurden mehrere Beiträge zur Frage "Welche Bedeutung hat Klasse heute?" veröffentlicht. Die Antworten verschiedener Autor_innen gehen nun nach und nach online - hier die Antwort von Salih Alexander Wolter und mir:

Nicht ohne Marx – und über ihn hinaus

Welche Bedeutung hat Klasse heute? Salih Alexander Wolter und Heinz-Jürgen Voß geben die vierte Antwort.

Die 'Klasse' – einst der Kernbegriff revolutionärer Theorie und Politik – wird in linken Ansätzen, die aktuell im deutschen Sprachraum diskutiert werden, oft nur noch mitgeschleppt. In der kulturwissenschaftlichen Wende der 1970er/1980er Jahre wurde Klasse schon beinahe für tot erklärt. Dass sie sich dennoch ins intersektionale Paradigma hinüberretten konnte, verdankt sie – kleine Ironie der Geschichte – der Borniertheit hiesiger Universitäten. Die lernten das neue Konzept nämlich lieber aus den Büchern nordamerikanischer Professorinnen, als es sich von den marginalisierten Frauen – oft Migrantinnen aus der Arbeiterklasse – erklären zu lassen, die es in ihren Kämpfen hierzulande zeitgleich entwickelt hatten. Nun haben es die deutschen und österreichischen Akademien also auch mit der Triade von Gender, Race, and Class zu tun, wissen aber mit der dritten dieser 'Hauptkategorien sozialer Ungleichheit' nicht viel anzufangen, weil sie – anders als die Vordenkerinnen aus den USA – vor marxistischen Analysen zurückschrecken.

Offenbar aus dem gleichen Grund droht eine Linke, die sich auf die 'Überwindung von Diskriminierung' beschränken will, deren Grundlagen aus den Augen zu verlieren. Denn die große Leistung des intersektionalen Ansatzes besteht gerade darin, scheinbar vorgegebene und unabänderliche Identitäten auf ineinandergreifende gesellschaftliche (Herrschafts-) Verhältnisse zurückzuführen. So werden Geschlecht und 'Rasse' heute als ebenso wenig 'natürlich' erkannt, wie es für die Klasse schon längst galt. Diese ergibt sich aus dem Kapitalverhältnis, das "Kapitalisten auf der einen Seite, Lohnarbeiter auf der andren" (MEW 23: 641) einander gegenüberstellt. Sicher genügt diese Formel nicht, eine komplexe Gegenwart zu fassen, in der z. B. einerseits auch millionenschwere Bankvorstände letztlich nur Angestellte sind, andererseits selbst prekarisierte Bewohner_innen der Metropolen noch von der Überausbeutung von vor allem Frauen im Globalen Süden profitieren. Aber falsch und gefährlich ist es, wenn neuerdings unter dem Stichwort ›Anti-Klassismus‹ die Klasse mitunter quasi 're-naturalisiert' wird.

Stattdessen gilt es, den Begriff sowohl analytisch zu füllen, als auch mit der lebensweltlichen Erfahrung rückzukoppeln. Es gilt, das Zusammenspiel von Rassismus, Sexismus und Kapitalismus zu verstehen, mit dem Europa die Welt kolonisiert hat (Immanuel Wallerstein / Étienne Balibar), und zu erkennen, dass es heute eine hierarchische und ihrerseits globalisierte Strukturierung der Preise der Arbeitskraft gibt (Samir Amin, Gayatri Chakravorty Spivak). Und es gilt zu durchschauen, wie in unseren Gesellschaften 'Diversity' funktioniert, indem unterschiedliche Bedürfnisse gegeneinander ausgespielt und soziale Unterschiede kulturalisiert werden. Wenn es ums Ganze gehen soll, braucht es einen erneuerten Klassenbegriff. Der wird ohne Marx nicht zu haben sein und zugleich über ihn hinausgehen müssen – rassismuskritisch, antisexistisch, verqueert.

Malmoe, online seit 26.04.2014 20:43:07 (Printausgabe 66)

voss_wolter_queer_anti_kapitalismusDas Buch "Queer und (Anti-) Kapitalismus" ist nun erschienen und kann ab sofort beim Verlag bestellt und bei jeder Buchhandlung bezogen werden!

Voß, Heinz-Jürgen / Wolter, Salih Alexander:
Queer und (Anti-)Kapitalismus
Schmetterling-Verlag
2. Aufl. 2015 (1. Aufl. 2013) / 160 Seiten / 12,80 EUR
ISBN 3-89657-061-7

Klappentext:
Die ‹Erfolgsgeschichte› der bürgerlichen Homo-Emanzipation in den westlichen Industriestaaten während der letzten Jahrzehnte fällt mit der neoliberalen Transformation der Weltwirtschaft zusammen. Während vor allem weiße schwule Männer Freiheitsgewinne verbuchen, kommt es zu einem entsolidarisierenden Umbau der Gesellschaft, verbunden mit zunehmend rassistischen Politiken im Innern; zugleich dient der «Einsatz für Frauen- und Homorechte» als Begründung für militärische Interventionen im globalen Süden. Dabei waren es schon 1969 in der New Yorker Christopher Street «[S]chwarze und Drag Queens/Transgender of colour aus der Arbeiterklasse», die den Widerstand gegen heteronormative Ausgrenzung und Gewalt trugen und «sich in Abgrenzung zu weißen Mittelklasse-Schwulen und [-]Lesben ‹queer› nannten, lange bevor deren akademische Nachfahren sich diese Identität aneigneten» (Jin Haritaworn). Doch auch hierzulande sind es die queer People of Color, die aktivistisch wie theoretisch gesamtgesellschaftliche Perspektiven jenseits des gängigen Homonationalismus entwickeln.
Im Band betrachten wir die aktuell viel diskutierten Ansätze einer ‹queer-feministischen Ökonomiekritik› vor dem Hintergrund queerer Bewegungsgeschichte. Wir zeigen mögliche Verbindungen zum ‹westlichen Marxismus› Antonio Gramscis, zum postkolonialen Feminismus Gayatri Chakravorty Spivaks, zu den «Eine-Welt›»Konzepten von Immanuel Wallerstein und Samir Amin auf. Wegweisend ist für uns ein intersektionales Verständnis, wie es Schwarze Frauen und queere Migrant_innen in der Bundesrepublik bereits seit den 1980er Jahren erarbeitet haben. Uns interessiert in diesem Band, wie Geschlecht und Sexualität – stets verwoben mit Rassismus – im Kapitalismus bedeutsam sind, sogar dort erst aufkommen oder funktional werden. Theoretisch, historisch und immer mit Blick auf Praxis untersuchen wir die Veränderungen der Geschlechter- und sexuellen Verhältnisse der Menschen unter zeitlich konkreten kapitalistischen Bedingungen. Wem nützen die geschlechtlichen und sexuellen Zurichtungen der Menschen im Kapitalismus, und was lässt sich aus den historischen und aktuellen Kämpfen für queere Kapitalismuskritik lernen?
Interview zum Buch, bei Radio Corax (Halle): hier online.
Eine Übersicht über erschienene Rezensionen findet sich hier und wird laufend aktualisiert.