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Materialien und Methoden zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt werden erfreulich vielfältig.

Materialien und Methoden zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt werden erfreulich vielfältig. Einige der neuen sehr guten Materialien seien im Folgenden umrissen:

Der Band "Schule lehrt/lernt Vielfalt", herausgegeben von Annika Spahn und Juliette Wedl, hat schon einige Aufmerksamkeit gefunden. Er versammelt auf dem aktuellen Stand theoretische Inhalte und auch schon einige praktische Vorschläge zur Thematisierung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt im Schulunterricht - auch für weitere Einrichtungen empfehlenswert.

Mittlerweile liegt nun auch der methodisch orientierte Nachfolgeband vor, der Materialien und Methoden für die Unterrichtsgestaltung beinhaltet. Genau wie der vorhergehende Band profitiert der Band von den langjährigen Erfahrungen der Beitragenden. Die Auswahl der Materialien und Methoden für die Thematisierung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt im Schulunterricht erfolgte entsprechend praxisorientiert und wissenschaftlich fundiert.

Schließlich ist auch die Homepage "Vielfalt erfahrenswert" des Kompetenzzentrums geschlechtergerechte Jugendhilfe (Magdeburg) sehr zu empfehlen. Ebenfalls von einem Projektbeirat aus Praktiker*innen und Wissenschaftler*innen begleitet, wurden hier altersspezifisch vielfältige Materialien, Videos, Musik und Bücher zusammengestellt, mit denen geschlechtliche und sexuelle Vielfalt in der Bildung zum Thema gemacht werden kann.

Über weitere Materialien wurde etwa hier und hier schon auf Dasendedessex berichtet.

Gern weise ich an dieser Stelle einmal auf die Bücher hin, die ich im Jahr 2018 besprochen habe. Ganz besonders empfehlen möchte ich dabei die drei Bücher, die von Yener Bayramoğlu, Ann Wiesental bzw. Ulrich Würdemann verfasst wurden! Siehe die Rezensionen:

Rezension von "Pornografie und psychosexuelle Entwicklung im gesellschaftlichen Kontext. Psychoanalytische, kultur- und sexualwissenschaftliche Überlegungen zum anhaltenden Erregungsdiskurs"; von Alexander Korte. Auf: socialnet, 27.12.2018 (Online).

Rezension von: "Queertheoretische Perspektiven auf Bildung. Pädagogische Kritik der Heteronormativität"; hg. von Jutta Hartmann, Astrid Messerschmidt, Christine Thon. Auf: socialnet, 27.12.2018 (Online).

Rezension von: "Sexualisierte Gewalt an erwachsenen Schutz- und Hilfebedürftigen"; von Martin Wazlawik, Stefan Freck (Hg.). Auf: socialnet, 25.6.2018 (Online).

Rezension von: "Die Vereindeutigung der Welt. über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt"; von Thomas Bauer. Auf: socialnet, 12.6.2018 (Online).

Rezension von: "Sexualität und soziale Arbeit"; von Alexandra Klein, Elisabeth Tuider (Hg.). Auf: socialnet, 30.5.2018 (Online).

Rezension von: "Queere (Un-)Sichtbarkeiten. Die Geschichte der queeren Repräsentationen in der türkischen und deutschen Boulevardpresse"; von Yener Bayramoğlu. Auf: socialnet, 15.3.2018 (Online).

Rezension von: "Geschlecht im flexibilisierten Kapitalismus? Potenziale von Geschlechter- und Gesellschaftstheorien"; von Ilse Lenz, Sabine Evertz und Saida Ressel (Hg.). Auf: socialnet, 15.3.2018 (Online).

Rezension von: "Antisexistische Awareness. Ein Handbuch"; von Ann Wiesental. Auf: socialnet, 13.3.2018 (Online).

Rezension von: "Varianten der Sexualität. Studien in Ost- und Westdeutschland"; von Kurt Starke. Auf: socialnet, 13.3.2018 (Online).

Rezension von: "Widersprüche des Medizinischen. Eine wissenssoziologische Studie zu Konzepten der 'Transsexualität'"; von Katharina Jacke. Auf: socialnet, 7.3.2018 (Online).

Rezension von: "Politiken in Bewegung. Die Emanzipation Homosexueller im 20. Jahrhundert"; von Andreas Pretzel, Volker Weiß (Hg.). Auf: socialnet, 26.2.2018 (Online).

Rezension von: "Expert_innen des Geschlechts? Zum Wissen über Inter*- und Trans*-Themen"; von Kim Scheunemann. Auf: socialnet, 7.2.2018 (Online).

Rezension von: "Magnus Hirschfeld und seine Zeit"; von Manfred Herzer. Auf: socialnet, 29.1.2018 (Online).

Rezension von: "Queer Wars: Erfolge und Bedrohungen einer globalen Bewegung"; von Dennis Altman und Jonathan Symons. Auf: socialnet, 26.1.2018 (Online).

Rezension von: "Schweigen = Tod, Aktion = Leben. ACT UP in Deutschland 1989 bis 1993"; von Ulrich Würdemann. Auf: socialnet, 25.1.2018 (Online).

Rezension von: "Demo. Für. Alle.. Homophobie als Herausforderung"; von Detlef Grumbach (Hg.). Auf: socialnet, 24.1.2018 (Online).

Wer feste Identitäten mag, ist in der schwulen Literatur und Kunst in der Regel nicht richtig. Dort zeigen sich Auflösungen und ambige Aushandlungen, die sexuelle Akte, Verlangen und konkretes menschliches Miteinander in den Mittelpunkt stellen. Oder, wie Dirck Linck im vorliegenden Buch Hubert Fichte zitiert:

„Ich lobe den Arsch, den ich fühlen kann, sehen, riechen, schmecken, hören, den sinnlichsten von allen! […] Ich lobe den Arsch, der ist wie ein Auge, das wie die Welt ist, die wie ein Arsch ist!“ (Pubertät; nach: Linck, S. 118)

Wunderbar, dass es literaturwissenschaftliche Meister_innen gibt, die auch jenen einen Zugang zu Literatur ermöglichen, die erst eine kleine Hilfestellung benötigen – einen freundlichen Hinweis. Ich bin eine solche Person, die für Hilfestellung dankbar ist, die gern liest, aber gern auf andere Lesweisen aufmerksam gemacht wird. Dirck Linck gehört zu denen, die zur Hilfestellung in der Lage sind. Er ist ein ausgewiesener Kenner der subversiven, gendervarianten, schwulen und queeren Literatur – und macht Lust darauf, sie zu lesen, neu zu interpretieren und sich von ihr neu, politisch und aktivistisch inspirieren zu lassen. Und Linck schlägt anregende Perspektiven selbst vor, über die der Austausch lohnt.Weiterlesen » » » »

Um "Kontroversen und Chancen: Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in der Jugendarbeit" ging es beim Fachtag von "Gerne anders!" in Hagen (NRW). Es handelte sich um eine sehr schöne und hoch angebundene Veranstaltung, die auch über die Region hinaus wirken sollte. Ich durfte mit dem Vortrag „Kontroversen um sexuelle & geschlechtliche Vielfalt in Gesellschaft & LSBT* Community“ beitragen - alle Vorträge und Grußworte und einige weitere Eindrücke sind nun in einer Online-Videodokumentation zugänglich. Neben der guten Organisation und der wertschätzenden Diskussion hat mich besonders gefreut, dass Lilo Wanders (Homepage) die Veranstaltung moderiert hat - ich werde mich sehr gern an diese schöne Veranstaltung erinnern!

Abb.: Lilo Wanders und Heinz-Jürgen Voß beim Fachtag "Kontroversen und Chancen: Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in der Jugendarbeit" von "gerne anders!". Copyright bei: Gerne anders!

 

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Update: Achtung, Ironie!

Sachsen-Anhalt: AfD-Chef André Poggenburg lässt sich die Geschlechtsunterschiede erklären und tritt nun doch für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt ein

Das geht aus einem Ankündigungsflyer hervor, mit dem André Poggenburg, Gerald Wolf und die Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg für die Veranstaltung „Gender an der Uni?!“ am 12. Januar 2017 werben. [1]

Zur Erinnerung: In der gerade zurückliegenden Magdeburger Erklärung hatten sich André Poggenburg und die AfD noch für völkisches Denken ausgesprochen und erklärt: „In unseren Kindern leben Familie, Volk und Nation fort.“ Poggenburg setzte sich hiermit für ein vollständiges staatliches Zugriffsrecht auf Kinder ein – sie sollten im völkischen Sinne erzogen werden. Hingegen lehnte er die Bildungspolitik des aktuellen demokratischen Staates als unzulässige Einmischung in die Erziehungsangelegenheiten der Eltern ab. Kinder bis 14 Jahre, aber auch Heranwachsende, dürften insbesondere keine Sexualaufklärung erhalten, weil sie diese zu sehr verunsichern würde. Auch sollte, wie es in der Magdeburger Erklärung heißt, das Erziehungsrecht von alleinerziehenden Müttern und Vätern und das von geschiedenen Eltern staatlich sanktioniert werden und die Kinder möglichst in Adoptivfamilien gegeben werden. (Zu den Inhalten der Magdeburger Erklärung können Sie hier weiterlesen.)

Zur aktuellen Veranstaltung: Damals war es für André Poggenburg und seine AfD noch ganz problematisch, dass Kinder mitbekommen könnten, dass einige von ihnen einen Penis und Hodensack, andere eine Vulva haben und dass es auch bei den körperlichen Merkmalen individuelle Unterschiede gibt. Entsprechend sollten cis-Jungs nur mit cis-Jungs und cis-Mädchen nur mit cis-Mädchen geschlechtlichen Umgang haben, um nicht durch andere geschlechtliche Merkmale verunsichert zu werden. Heute zeigt sich Poggenburg ganz verwandelt. In der neuerlichen Ankündigung ist zu lesen, dass das Leben „fade“ wäre ohne diese „Geschlechtsunterschiede“. Von dem Romanautor und dem emeritierten Magdeburger Neurobiologen Dr. Gerald Wolf bekommt André Poggenburg nun das Interessante an den Geschlechtsunterschieden erklärt. Von ihm erfährt er am 12. Januar, wie „das weibliche Gehirn, wie das männliche“ tickt und warum „Wissenschaftler, Politiker und Pädagogen“ „um die Antwort“ rings um Fragen von Geschlechtlichkeit „ringen“. Ob es Wolf gelingt, Poggenburg von den Geschlechtsunterschieden zu begeistern und ob sie dann auch schon von Jugendlichen „entdeckt werden dürfen“ – oder doch erst ab dem 18. oder 21. Lebensjahr –, wird sich zeigen. Immerhin verspricht die Veranstaltung unterhaltsam zu werden, denn „Wissenschaft ist humorlos, dieser Roman ist es nicht“ heißt es in der Ankündigung von Wolfs aktueller literarischer Hervorbringung „Das Liebespulver“ (2013).

Aber: Etwas ernsthafter Hintergrund ist bei der Veranstaltung doch dabei. So liegt der Frauenanteil unter den Professuren an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg gerade einmal bei 14 % (Stand: 2017) und damit weit hinter dem bundesdeutschen Schnitt (23 %). Die hoch dotierten C4/W3-Professuren sind in Magdeburg sogar fast ausschließlich mit Männern besetzt (laut Gleichstellungskonzept sind 130 männlich und 8 weiblich besetzt; Frauenanteil 5,8 %). Hier zeigt sich Handlungsbedarf und liegt es an der Universität Magdeburg die stete Männerförderung zurückzufahren und über eine Berufungsordnung sicherzustellen, dass gleichberechtigt auch Frauen auf Professuren berufen werden. Etwa ein Ausbau des Kompetenzzentrums Geschlechterforschung und die Einrichtung eines Schwerpunktes Geschlechterforschung könnten hilfreich sein, um spezifische Ursachen für die Ungleichbehandlung zu erkennen. Fragen könnten sich auf die Karrierewege von Frauen und Männern, ob cis- oder trans-, in den wissenschaftlichen Disziplinen richten. Und sie könnten darauf zielen, wie junge Leute unabhängig des Geschlechts gleichermaßen für den mathematisch-technischen, den naturwissenschaftlichen und den sozialwissenschaftlich-geisteswissenschaftlichen Bereich gewonnen werden können – wie es international in Ländern mit besonders erfolgreicher Forschung der Fall ist.

[1] Der Eindruck, dass es sich auch um eine Veranstaltung der Universität selbst handelt, entsteht, da sich auf dem Flyer keinerlei Angabe über den_die Veranstalter_in findet.

Seit 1994 ist der §175, der sich gegen mann-männliche Sexualität richtete, abgeschafft. Seitdem zielt die gesellschaftliche Entwicklung darauf, dass Lesben und Schwule und zunehmend auch Trans* und Inter* nicht mehr diskriminiert werden, sondern in ihrer sexuellen und/bzw. geschlechtlichen Selbstbestimmung ernstgenommen werden sollen. Geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung kommt letztlich allen Menschen zu Gute.

Für die pädagogische Arbeit ergeben sich damit bedeutende Änderungen. So kann und darf es in Einrichtungen nicht mehr vorkommen, dass z.B. Homosexualität als Krankehti vorgestellt wird - wie es noch bis in die 1990er Jahre der Fall war. Vielmehr gilt es Kinder und Jugendliche in ihrer individuellen Entwicklung zu unterstützen, so dass sie es nicht - oder weniger - als Problem erleben, wenn sie feststellen, nicht in die heterosexuelle, nicht in die "typisch männliche" oder "typisch weibliche" Norm zu passen. Gleichzeitig wird durch eine Toleranz und Akzeptanz fördernde Pädagogik Diskriminierung abgebaut - das Kinder diskriminierungsfrei miteinander umgehen, beginnt im Kindergarten und setzt sich in dem wichtigen Lernort Schule fort. Das Erleben in Familie und der näheren Umgebung ist ein weiteres wichtiges Lernfeld.

Auf den Einrichtungsalltag zielen Materialien, Bücher und Bücherkisten, die auf ministerielle Anforderung von Fachberatungsstellen zusammengestellt werden. Aktuell wurden zwei sehr gute und ertragreiche Bücherkisten vorgestellt: "Geschlechter- und Familienvielfalt", "Geschlecht, Sexualität und geschlechtliche und sexuelle Vielfaltin Krippe, Kindergarten und Hort". Die Broschüren geben sehr gute Anregungen und bilden eine wichtige Grundlage für eine diskriminierungsfreie und demokratiefördernde Pädagogik.

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PSY-Katzer-2546-v03.indd"Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung" (Gießen 2016: Psychosozial-Verlag) ist ein innovativer und praxisorientierter Sammelband. Themen in den drei im Titel benannten Schwerpunkten sind: Trans* // Intergeschlechtlichkeit // Asexualität // 'Sexualität und Gefängnis' // Recht auf Abtreibung // Behinderung und reproduktive Selbstbestimmung // geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. Weitere Informationen zum Band gibt es hier (inkl. Link zum kostenlosen Download): http://www.psychosozial-verlag.de/catalog/product_info.php/cPath/1000/products_id/2546

Über dein und Ihr Interesse würden wir uns freuen - auch über Rezensionen. Ein Rezensionsexemplar kann bei mir ( voss_heinz@yahoo.de , wird ab 10. März verschickt) oder direkt beim Verlag angefordert werden ( Melanie Fehr, melanie.fehr@psychosozial-verlag.de ). Auch über weitere Rückmeldungen freuen wir uns!

Liebe und herzliche Grüße
Heinz-Jürgen Voß

Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung: Praxisorientierte Zugänge
Michaela Katzer, Heinz-Jürgen Voß (Hg.)

Buchreihe: Angewandte Sexualwissenschaft
Verlag: Psychosozial-Verlag
2016 / 358 Seiten, 36,90 Euro
ISBN-13: 978-3-8379-2546-3
Informationen: http://www.psychosozial-verlag.de/catalog/product_info.php/cPath/1000/products_id/2546
Inhaltsverzeichnis und Leseprobe: http://www.psychosozial-verlag.de/pdfs/leseprobe/9783837925463.pdf

Das Buch gibt es nun auch zum kostenlosen Download (OPEN ACCESS, PDF-Datei): Psychosozial-Verlag.

Klappentext:
Selbstbestimmung geht über die Überwindung bzw. Abwesenheit von äußerem Zwang hinaus. Sie erfordert positives Bewusstsein über Möglichkeiten eigenen Handelns mit einem Spektrum von Anpassung bis Ausbruch. Geschlechtliche Selbstbestimmung schließt Abweichung, Veränderung und Deutungshoheit über körperliche Geschlechtsmerkmale ein.

Im vorliegenden Buch wird »Selbstbestimmung« im sexualwissenschaftlichen Diskurs aus akademischer und aktivistischer Perspektive betrachtet. Die Beiträge beleuchten Aspekte von Inter- und Transsexualität, Asexualität, Sexualität unter Haftbedingungen, im Kontext von Behinderung sowie außerhalb heterosexueller Paarbeziehungen. In ihrer Vielfalt sind die Beiträge Zeitzeugnis, geben zugleich einen Ausblick auf die Zukunft und tragen dazu bei, gängige Denkschablonen zu überwinden.

Mit Beiträgen von Anne Allex, Markus Bauer, Heike Bödeker, Jens Borchert, Diana Demiel, Andreas Hechler, Michaela Katzer, Torsten Klemm, Katja Krolzik-Matthei, Anja Kruber, Alina Mertens, Andrzej Profus, Nadine Schlag, Heino Stöver, Manuela Tillmanns, Daniela Truffer, Heinz-Jürgen Voß und Marlen Weller-Menzel

Sexuelle_Vielfalt_Geschlechter_Lewandowski_KoppetschRezension von:
"Sexuelle Vielfalt und die UnOrdnung der Geschlechter", hg. von Sven Lewandowski, Cornelia Koppetsch

Seitdem Sexualität aus dem Verborgenen heraustritt und auch in Gesellschaft offen und öffentlich verhandelt wird, ändern sich auch die sexualwissenschaftlichen Diskussionen. Einerseits wurden durch die breitere Thematisierung des Sexuellen Veränderungen erreicht, die dazu führen, dass sexualisierte Gewalt nun aufgedeckt werden kann – und nicht unter der Tabu-Decke bleibt. Andererseits wird es nötig, vielfältige geschlechtliche und sexuelle Identitäten anzuerkennen – Öffentlichkeit und Sichtbarkeit als Voraussetzung für selbstbestimmtes geschlechtliches und sexuelles Leben (aber möglicherweise auch als Basis für die Einhegung der Vielfalt in Kategorie, Sicherheit und Hegemonie).

Mit der Sexualität tritt auch Sexualwissenschaft zunehmend aus dem Nischendasein. Wies die Schließung der Frankfurter Sexualwissenschaft zunächst in eine andere Richtung, so zeigt sich mit aktuellen Förderprogrammen, dass ein gesellschaftlicher Wandel dahingehend stattfindet, sexualisierte Gewalt auch mit Blick auf die strukturellen Bedingungen über institutionelle Förderprogramme zu thematisieren und Akzeptanzförderung gegenüber lesbischen, bisexuellen und schwulen Begehrensweisen sowie trans*- und inter*geschlechtlichen Identitäten zu betreiben. Das geschieht sicherlich auch, um die eklatanten Diskriminierungen gegen und hohen Suizidversuchsraten unter LGBTTI-Jugendlichen zu verringern.

Interessanter Effekt der breiteren Debatte ist einerseits die stärkere Entrüstung einiger – erzkonservativer und rechtspopulistischer – gesellschaftlicher Kreise über geschlechtliche und sexuelle Vielfalt. Rüdiger Lautmann stellt prägnant fest: „Was für akademisch-subkulturelle Kreise noch geduldet worden war, ja als schick galt, erhitzte nun die Gemüter, als es in den Kernbereich konservativen Selbstverständnisses vordrang: in Familie, Schule und Kirche.“ (S. 29) Hintergrund der Entrüstung ist dabei aber möglicherweise weniger die thematisierte Vielfalt, als vielmehr, dass nun Sexualität auch in den sexuellen Bereichen gesehen wird, wo sie zuvor kaum Thema war: Sexualwissenschaft schwenkt zunehmend auf Heterosexualität, die dort gelebten sexuellen Praktiken, das Zusammenleben in langjährigen Paarbeziehungen, dortige sexuelle Aktivität oder in anderen Fällen eintretende sexuelle Zurückhaltung sowie zwischen festen Paaren gelebte Beziehungskonstellationen. weiter bei socialnet

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Wenn rechtspopulistische Kreise gewinnen: Zu den Debatten um Sexualpädagogik und Antidiskriminierung (von Heinz-Jürgen Voß; hier als pdf-Datei)

Schon dass in der Debatte um den Bildungsplan zu sexueller Vielfalt im niedersächsischen Landtag der Begriff „Frühsexualisierung“ verwendet wurde, bedeutet einen Punktsieg für rechtspopulistische und rechtskonservative Kreise. In der Landtagsdebatte hoben gleich mehrere Redner hervor, dass es bei dem Bildungsplan „gerade nicht um die von einigen beklagte ‚Frühsexualisierung‘ und auch nicht um Sexualkunde gehe, sondern einfach darum, die Lebensvielfalt angemessen abzubilden.“ (Queer.de 2014) Der FDP-Abgeordnete Björn Försterling führte mit Blick auf sein eigenes schwieriges Coming-Out aus: „Die zahlreichen Schreiben besorgter Eltern nehme man ernst. Wie der 32-Jährige unter großem Applaus erklärte, müsse man ihnen aber antworten, dass es eben ‚nicht um Frühsexualisierung, nicht um Sexualkunde‘“ gehe (ebd.).

Bei der Gruppe von Menschen, die sich in den vergangenen Monaten als „besorgte Eltern“ hervortaten, handelt es sich eher um besorgniserregende Eltern. U.a. riefen sie mit dem rechtspopulistischen Magazin Compact (!) zu Demonstrationen auf. Über Verstrickungen dieser besorgniserregenden Eltern in Kreise, in denen extrem rechte Positionen geäußert werden (etwa die körperliche Züchtigung von Kindern gefordert und der Holocaust geleugnet wird) klärt die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Lotta – Antifaschistische Zeitung aus NRW, Rheinland-Pfalz und Hessen (Lotta 2014) auf. Erinnern wir uns aber weiter, woher zentral die aktuellen Angriffe gegen Sexualpädagogik und Geschlechterforschung kamen: Da veröffentlichte eine Karla Etschenberg in der extrem rechten Zeitschrift Junge Freiheit, genau wie ein Martin Voigt. Dieser publizierte ebenso in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Auch in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienen Beiträge zum Thema, dort im von Volker Zastrow verantworteten Ressort „Politik“. Zastrow hat sich selbst mit einem Buch 2006 deutlich insgesamt gegen die Gleichstellung von Frauen und Männern und gegen Geschlechterforschung gewandt (vgl. etwa Roßhart 2007). In anderen Medien und gerade von wissenschaftlichen Fachgesellschaften kamen dagegen andere Positionen – eine Übersicht über die lesenswerten Beiträge findet sich hier: Voß 2014b.

Allen Eltern und Fachkräften in Kindereinrichtungen ist klar, dass Kinder bereits als Säuglinge lustvolle Gefühle haben und im Anschluss suchen. Das ist etwa der Fall, wenn sie an der Brust (oder der Flasche) Milch saugen und diesen Vorgang als sättigend und wohltuend erleben. Es ist auch der Fall, wenn sie ab einem bestimmten Zeitpunkt selbst merken, dass sie kacken und pullern und das entstehende Häuflein als ihr eigenes Produkt ansehen und stolz darauf sind. Im Arm gehalten werden, die Nähe von vertrauten Personen spüren, das sind oft als angenehm wahrgenommene Situationen, in denen Eltern wissen, dass sich die Säuglinge und Kleinkinder wohlfühlen. All diese Prozesse werden in der Sexualwissenschaft als „sexuell“ verstanden.[1] Gleiches gilt, wenn Kinder einige Körperstellen häufiger berühren – das können, müssen aber nicht die Genitalien sein –, weil sie auch das als angenehm empfinden. Die heutige Sexualwissenschaft macht hieraus keine ‚Dramen‘, sondern sagt etwa, dass dieses Erkunden okay ist und dass die Pädagogik im Stil der 50er Jahre falsch lag, die dieses Berühren gleich im Sinne erwachsener Sexualität verstand, Moral und Ordnung als bedroht ansah und gar mit körperlicher Gewalt ein ‚Das macht man doch nicht!‘ durchsetzte. (Vgl. Voß 2014a.) Knapp und gut gefasst, wird das ‚neuere‘, seit den 1960er Jahren zunehmend etablierte Verständnis in dem Beitrag „Kindergarten: ‚Das Thema Sexualität ist sowieso da‘“ deutlich, der bei Die Presse erschienen ist (Die Presse 2014). Im Beitrag heißt es u.a.: „Sex und Aufklärung als Thema im Kindergarten – ist das notwendig? Ein Gremium der WHO [Weltgesundheitsorganisation …] empfiehlt die Sexualerziehung ab der Geburt. Da geht es freilich nicht um klassische Aufklärung, sondern um Körperbewusstsein, einen adäquaten Umgang mit Körperlichkeit und Gefühlen. Und um Antworten – das gilt eben auch für den Kindergarten. Da sei etwa die Frage typisch, wie ein Baby aus dem Bauch herauskommt. Da reiche die simple Antwort ‚durch die Scheide‘, sagt Kapella. Sexualität umfassend zu erklären sei nicht nötig. Von sich aus an Kinder herantragen sollte man aber Themen wie Körperteile, Gefühle und Wahrnehmung. ‚Kinder brauchen eine Sprache für Sexualität, keine Details über Geschlechtsverkehr.‘“ (ebd.) Es geht also nicht um vermeintliche ‚Frühsexualisierung‘, wie es rechtskonservative und rechtspopulistische Kreise postulieren, sondern „Das Thema Sexualität ist sowieso da“ – und damit muss umgegangen werden. Das kann entweder geschult passieren, auf Basis sexualpädagogischer Konzepte, oder es passiert ohne Ausbildung der Pädagog_innen, die dann selbst oft nicht wissen, wie sie reagieren sollen. In Befragungen der bundesweiten Fortbildungsoffensive wünschten sich die ca. 7.000 befragten Mitarbeiter_innen der Kinder- und Jugendhilfe Fortbildungen, insbesondere sexualpädagogische Konzepte (86%), Verfahrensleitlinien (82%), interne und externe Beschwerdeverfahren (63%), eine Fortentwicklung des Beschwerdemanagements der Einrichtung (60%) (Eberhardt/Mann 2014).

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