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Auch Evolutionsbiologie ist Wissenschaft – meist: Zu den Büchern „Adams Apfel und Evas Erbe“ von Axel Meyer und „Das Gender-Paradoxon“ von Ulrich Kutschera

von Heinz-Jürgen Voß

Die Bände „Adams Apfel und Evas Erbe“ des Biologen Axel Meyer und „Das Gender-Paradoxon“ des Pflanzenphysiologen und Biologen Ulrich Kutschera haben gesellschaftlich für Debatten gesorgt. Beide erwidern aktuellen Erkenntnissen der Geschlechterforschung; punktuell haben sie hierfür auch Arbeiten aus dieser Disziplin gelesen. Ulrich Kutschera macht das bereits im Titel kenntlich, in dem er hier Anleihe beim verbreiteten Buch „Gender-Paradoxien“ der  Soziologin und Geschlechterforscherin Judith Lorber nimmt, das 1999 auch in deutscher Sprache erschien(1995 auf Englisch).

Nach der Lektüre von Kutscheras Band ist Axel Meyers Publikation ein entspannender Stoff. Seine Aussagen sind gewiss streitbar, aber sie werden ruhig argumentierend vorgetragen. An verschiedenen Stellen wird kurz auch auf die wissenschaftlichen Gegenpositionen im biologischen Feld verwiesen – so z. B. auf den Populationsgenetiker Richard Lewontin, der in seinen Arbeiten der 1990er und 2000er Jahre die Einengung und Erstarrung in biologischer Theoriebildung beklagt hatte, etwa in dem vielbeachteten Buch „Biology as Ideology“ (1991). Ebenso wird der Paläontologe Stephen Jay Gould, der in dem 1983 auch in deutscher Sprache erschienenen Werk „Der falsch vermessene Mensch“ rassistischen Vorannahmen in biologischer Forschung nachging, von Meyer – respektvoll – erwähnt.

„Adams Apfel und Evas Erbe“ liest sich dabei wie eine Einführung in die Genetik. So werden auf den ersten 130 Seiten die Grundlagen erörtert, damit auch Lai_innen den anschließenden spezifischeren Ausführungen genetischer Vorbestimmung des Geschlechts folgen können. Hier referiert Meyer auch kritische Einwände, wenn er etwa die zentrale Bedeutung des X- und des Y-Chromosoms für die Geschlechtsentwicklung benennt, aber gleichzeitig darauf verweist, dass selbst bei einigen Säugetierarten dieser chromosomale Unterschied nicht feststellbar sei (S. 162). Er geht darüber hinaus auch auf die Merkmalskombinationen X0-, XXY-Chromosomensatz etc. ein und thematisiert z. B. die Existenz von sogenannten XY-Frauen (also Menschen mit als „typisch männlich“ betrachtetem Chromosomensatz bei als „typisch weiblich“ betrachtetem Erscheinungsbild). Auf seine Weise eröffnet Meyer so den Zugang, um Variationen des Geschlechts zu erläutern. Daran anschließend geht er auf einige der Gene ein, denen mittlerweile Bedeutung in einem komplexen Netzwerk der Geschlechtsentwicklung zugeschrieben wird – es wäre lohnenswert diese Betrachtungen zum SRY-Gen, dem DMRT1-Gen, dem DAX1-Gen etc. mit den entsprechenden ausführlichen Beschreibungen im Schlusskapitel meines Buchs „Making Sex Revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive“ (2010) in Diskussion zu bringen – die Ableitungen gehen übereinstimmend in Richtung variabler geschlechtlicher Entwicklung, bei divergierender Schwerpunktsetzung. Meyer wendet sich in seinen abschließenden Kapiteln Fragen möglicher biologischer Bedingtheit von Homosexualität zu und geht dabei ebenfalls auf verschiedene Sichtweisen ein, zeigt den widersprüchlichen Theoriestand der Biologie auf, lässt aber leider einige grundlegende Kritiken aus, die von Biolog_innen ebenso wie von lesbischen und schwulen Aktivist_innen vorgebracht wurden. In Bezug auf Geschlecht und Sexualität ergeben sich in den Erkenntnissen der Geschlechterforschung und denen, die Axel Meyer vorträgt, in vielen Positionen Übereinstimmungen, an anderer Stelle Differenzen, die – so vorgetragen – gut und gewinnbringend diskutiert werden können. Es zeigt sich, wie wichtig es ist, dass Wissenschaftler_innen miteinander im Gespräch und interdisziplinär interessiert sind.

Nicht unerwähnt bleiben kann allerdings, dass Meyer einzig bei Fragen der Erblichkeit von Intelligenz Theorien vorträgt, die indiskutabel biologisieren und nicht mehr haltbar sind. Bereits Stephen Jay Gould hatte ihnen begründet widersprochen; aktuelle wissenschaftlich fundierte Einwände gegen die dargestellten Erblichkeitsüberlegungen finden sich im 2009 publizierten deutschsprachigen Sammelband „Gemachte Differenz: Kontinuitäten biologischer ‚Rasse‘-Konzepte“.

Ulrich Kutschera hingegen tut sich und seiner wissenschaftlichen Expertise mit dem Buch „Das Gender-Paradoxon“ keinen Gefallen. Zu hektisch und aggressiv wird die eigene Argumentation vorgetragen, zu sehr reihen sich theoretische Versatzstücke aneinander und wechseln sich mit persönlichen Anekdoten ab. Wird seine 2001 erschienene „Evolutionsbiologie“ durchaus berechtigt als ein wichtiges Fachbuch in der Lehre zugrunde gelegt und spielt es dabei in einer Liga mit dem von der Biologin und Museologin Ilsa Jahn herausgegebenem Standardwerk „Geschichte der Biologie“ (1985) sowie den gemeinsamen Veröffentlichungen der Biologiehistoriker, Didaktiker und Evolutionsbiologen Thomas Junker und Uwe Hoßfeld (z. B. „Die Entdeckung der Evolution: Eine revolutionäre Theorie und ihre Geschichte“, 2001) – so gilt das nicht für Kutscheras aktuellen Band.

Der Charakter von „Das Gender-Paradoxon“ als politische Kampfschrift wird bereits im Klappentext deutlich. Kutschera wendet sich mit dem Buch gegen die aktuelle Gleichstellungspolitik, in der er eine Missachtung biologischer geschlechtlicher Grundlagen erkennt. Doch statt streitbaren Lesegenuss durch fokussierte Argumentationsführung zu bieten,  verheddert sich Kutschera im anekdotischen Klein-Klein. Gleichzeitig ist er aber schon bei basalen Definitionen ungenau, wenn er etwa schreibt: „Der englische Begriff ‚Sex‘ steht in der Biologie einerseits, vereinfacht, für ‚Befruchtung‘ (d. h. zweigeschlechtliche Fortpflanzung, sexual reproduction), andererseits aber auch für ‚Geschlecht‘ (Gender).“ (S. 19f) Ein kurzer Blick ins Wörterbuch eröffnet die korrekte Perspektive, dass „Sex“ zum einen den sexuellen Akt meinen kann, der dabei auch oral und anal erfolgen darf, zum anderen das biologische Geschlecht. Hingegen steht er gerade nicht für das soziale Geschlecht, das im Englischen „Gender“ genannt wird.

Durch Kutscheras Schrift ziehen sich Begriffe wie „genderistisch“ und „Gender-Ideologie“ (er verwendet das rechte Schlagwort ohne jeden Bezug auf wissenschaftliche Ideologietheorien). Selbst die biologische Fachzeitschrift Nature sei „inzwischen genderistisch unterwandert“ (S. 39), nur weil sie auch Bücher rezensiert, die nicht zu hundert Prozent der Sichtweise des Autors entsprechen. Brüsk weist Kutschera etwa die Sichtweise der (US-amerikanischen) Amerikanistin Kimberly A. Hamlin zurück, die in ihrem Buch „From Eve to Evolution“ (2014) feministische Perspektiven von und auf Charles Darwin eröffnet hatte. Dabei ist gerade auch diese Auseinandersetzung relevant, da zum Beispiel Paul Julius Möbius, der mit seiner frauenverachtenden Schrift „Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes“ um 1900 für Aufsehen sorgte, seinen Gegner_innen vorwarf, „darwinistischer Schwärmerei“ nachzuhängen. Sie hatten aus Charles Darwins Beschreibungen der Wichtigkeit des Handwerksgebrauchs und der Sprache für die evolutionäre menschliche Gehirnentwicklung und seinen Ausführungen, dass Fähigkeiten, bei vorteilhafter Wirkung, durch Übung evolutionär Verbreitung finden könnten, geschlossen, dass Frauen nicht weiter gehindert werden sollten, ihre Verstandeskräfte zu üben. Spät, ab dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, wurden auch die deutschen Universitäten regulär für Frauen geöffnet, in den 1920er Jahren konnten sich die ersten von ihnen habilitieren. Kutschera aber widerspricht noch heute Sichtweisen „Darwin’schen Feminismus“ (S. 20).

Abenteuerlich werden die Darlegungen, wenn Ulrich Kutschera die traumatisierende Behandlungspraxis gegen intersexuelle Kinder, die, etwas abgewandelt, noch immer in Deutschland stattfindet, nicht etwa einer zweigeschlechtlichen Norm und ihrer Medizin zuschreiben will, sondern der Geschlechterforschung anlastet. Zwei Argumente sprechen hier mit Klarheit dagegen: Das Routinebehandlungsprogramm, das seit den 1950er Jahren zur Zuweisung und Vereindeutigung „untypischen“ Geschlechts angewandt wurde und zentral mit den Namen John Money, John und Joan Hampson verknüpft ist, wurde in ähnlicher Weise bereits von dem Nazi-Gynäkologen Hans Christian Naujoks vorgestellt. In seinem 1934 publizierten Aufsatz „Über echte Zwitterbildung beim Menschen und ihre Beeinflussung“ stellt er ausführlich Möglichkeiten korrigierender operativer und hormoneller Eingriffe vor. Selbst wenn man der Geschlechterforschung Schlechtes will, wird man nicht behaupten können, dass es sie bereits in den 1930er oder in den frühen 1950er Jahren gegeben habe. Wie sich das gewaltvolle Behandlungsprogramm gegen intersexuelle Kinder konkret entwickelt hat, harrt der Untersuchung, z.B. durch die Geschlechterforschung – dabei sollte gerade die Entwicklung der methodischen Instrumente und des theoretischen Argumentationsrahmens, wie sie von Deutschland ausgingen, in den Fokus rücken. Wertvoll wäre, wenn Kutschera zumindest den aktuellen Kampf Intersexueller für das Verbot der geschlechtszuweisenden und -vereindeutigenden medizinischen Behandlungspraxis, die er zu Recht kritisiert, auch konkret unterstützen würde, anstatt Intersexuelle einfach nur als „Beleg“ für seine Theorien anzuführen. Das gilt indes auch für Axel Meyer, der bezüglich Intersexualität ähnlich kurzschlüssig wie Kutschera ist und sich bisher ebenso wenig durch die Unterstützung der Selbstorganisationen Intersexueller hervorgetan hat.

Heinz-Jürgen Voß, diplomierter Biologe und promovierter Sozialwissenschaftler, ist Professor für Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg

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