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"Für eine frühe Zirkumzision ergeben Studien einige positive Effekte, insbesondere in Bezug auf Harnweginfektionen. Die Studien zu Harnweginfektionen […] ergeben durchweg ein deutlich (auch signifikant) geringeres Auftreten dieser Infektionen bei beschnittenen im Vergleich zu unbeschnittenen Jungen. Unbeschnittene Jungen hatten etwa zehnmal so häufig Harnweginfektionen wie beschnittene. So ermittelten Wiswell et al. (1989, USA) aus den Angaben der zwischen 1980 und 1985 in Krankenhäusern der US-Armee geborenen Jungen, dass bei 20 der 100.157 beschnittenen Jungen Harnweginfektionen auftraten; bei den 35.929 unbeschnittenen war das bei 88 der Fall. In einer Folgestudie für die Jahre 1985-1990 (Wiswell et al. 1993, USA) ergab sich ein ähnlich deutlicher Unterschied […]. Schoen et al. (2000, USA) erhielten aus einer Studie mit 14.893 im Jahr 1996 geborenen Jungen 132 aufgetretene Harnweginfekte – davon 86 Prozent bei den unbeschnittenen Jungen, die mit 35,1 Prozent (5.225) den kleineren Teil der Gruppe ausmachten. Damit erkrankten 2,15 Prozent der unbeschnittenen und 0,22 Prozent der beschnittenen Jungen im ersten Lebensjahr an einem Harnweginfekt. Ein Review zur Frage Harnweginfekte und Zirkumzision liegt mit Singh-Grewal et al. (2005, Australien) vor – er bestätigt das höhere Risiko einer Harnweginfektion bei unbeschnittenen Jungen. […] Morris et al. (2012) errechneten, dass auf 50 Zirkumzisionen eine »verhinderte« Harnweginfektion im frühen Kindesalter komme, betrachtet auf die ganze Lebenszeit sei das Verhältnis vier (Zirkumzisionen) zu eins (»verhinderte« Harnweginfektion)." Ausführlich der Beitrag von Dr. Heinz-Jürgen Voß in: Interventionen gegen die deutsche „Beschneidungsdebatte“ (das angeführte Zitat stammt von S.68)
Das Postulat vermeintlich 'häufig auftretender Traumatisierungen' ist nicht haltbar. Wissenschaftliche Studien konnten diese nicht zeigen. Etwa "Moses et al. (1998, Kanada) konnten bei ihrer Recherche »anekdotische«, jedoch keine wissenschaftlichen Beiträge" zu Traumatisierungen finden. Auch seriöse spätere Arbeiten kamen zu keinen anderen Ergebnissen. Auch hierzu ausführlich im benannten Buch (das angeführte Zitat stammt von S.74).

Die medizinischen Daten sprechen also für Vorhautbeschneidungen bzw. widersprechen diesen zumindest keineswegs. Der Präsident der Bundesärztekammer Frank Ulrich Montgomery äußerte sich entsprechend klar und kritisierte das Urteil des Kölner Landgerichts. In einer Pressemitteilung vom 1. Juli 2012 schreibt er: »Das Urteil des Kölner Landgerichts ist für die Ärzte unbefriedigend und für die betroffenen Kinder sogar gefährlich […] Es besteht nun die große Gefahr, dass dieser Eingriff von Laien vorgenommen wird und so – allein schon wegen der oft unzureichenden hygienischen Umstände – zu erheblichen Komplikationen führen kann.« (Bundesärztekammer 2012) Ähnlich äußerte sich die Deutsche Gesellschaft für Urologie. Die Deutsche Gesellschaft für Psychoanalyse, Psychotherapie, Psychosomatik und Tiefenpsychologie warnte vor den Auswirkungen, die mit der »Missachtung [von] kulturellen und religiösen Identität[en]« verbunden sein könnten, und regte zu toleranter gesellschaftlicher Aushandlung an (DGPT 2012). (vgl. ausführlich ebenda, S.51ff)

Vor der Landtagswahl in Niedersachsen: Was ist von den jewiligen Parteien zu erwarten? Ralf Buchterkirchen hat sie sich insbesondere bzgl. Lesben, Schwulen, Trans*-Personen und Intergeschlechtlichen angesehen - einerseits für die Arbeit der letzten fünf Jahre und was die Wahlprogramme versprechen: http://www.verqueert.de/5-years-niedersachsen-vor-den-wahlen/

Weder vom Wohlfühlen her noch aus medizinischer Sicht ergibt sich eine klare Positionierung zur Beschneidung. Gegner ignorieren die antisemitischen und antimuslimischen Auswirkungen der Verbotsdebatte.

"Was magst du lieber: cut oder uncut?" war eine der beliebten Umfragen in schwulen Medien. Dabei ging es um Empfindung, Spaß am Blasen und am Ficken; es ging um Vorlieben. Mit der "Beschneidungsdebatte" der letzten Monate kam auf einmal ein ganz neues Gefühl auf: Statt sich einfach etwa zu schnellem unproblematischen Sex verabreden zu können, musste man sich vorsehen nicht unversehens in ein psychologisches Gespräch zu geraten, indem das Un/Cut diskutiert oder gar problematisiert wurde. Also: Therapiesitzung oder Therapiegedanken im Hinterkopf, statt des unverfänglichen Sexes. ...

weiter bei: Queer.de
zum Buch: Interventionen gegen die deutsche "Beschneidungsdebatte"

Zur Debatte um die "Zwangstestung" auf HIV und Hepatitis habe ich gestern als eingeladene_r Sachverständige_r in der öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Inneres und Sport des Landtages Sachsen-Anhalt eine Stellungnahme vorgetragen. Hier ist sie nachzulesen.

Zülfukar Çetin, Heinz-Jürgen Voß, Salih Alexander Wolter:
Interventionen gegen die deutsche «Beschneidungsdebatte»

Edition Assemblage
96 Seiten, 9,80 Euro
ISBN 978-3-942885-42-3
Verlagsinformationen

Erhältlich überall im Buchhandel und beim Verlag.

Kurztext:
Kaum eine Debatte der letzten Jahre wurde in der Intensität geführt, wie die zur Vorhautbeschneidung (Zirkumzision). Interessant ist schon der Debattenverlauf, der nicht mit der Urteilsverkündung des Kölner Landgerichts Anfang Mai 2012 einsetzte, sondern erst sechs Woche später. Dafür gibt es Gründe. Auffallend war die weitgehende Zurückhaltung von Parlamentarier_innen und der medizinischen Fachgesellschaften - im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Akteur_innen, die eine vehemente Position gegen die Zirkumzision einnahmen. Dieser Band interveniert hier fundiert: Zülfukar Çetin und Salih Alexander Wolter beleuchten den Diskursverlauf und erarbeiten im Anschluss an die »Dialektik der Aufklärung« und Michel Foucaults Gouvernementalitätsstudien, wie selbst die geäußerten »atheistischen« Positionen von einem protestantisch-christlichen Religionsverständnis, von Herrschaft sowie rassistischen - antisemitischen und antimuslimischen - Einstellungen durchwoben sind. Heinz-Jürgen Voß untersucht die medizinischen Studien zur Auswirkung der Vorhautbeschneidung und stellt die Ergebnisse klar vor.

Eine Liste der bisher erschienenen Rezensionen findet sich hier.

Nachdem sich in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder vorgeschlagene Gene, die als "die zentralen Schritte" der Geschlechtsentwicklung postuliert wurden, später als keineswegs so bedeutsam herausgestellt hatten, geht das gleiche Denken in der genetischen Forschung weiter. Bisher ergaben sich bei allen Genen, die als Kandidatinnen für den so genannten "Hoden-determinierenden Faktor" "entdeckt" worden waren, rasch widersprüchliche Ergebnisse. Etwa bezüglich des Sry-Gens zeigte sich rasch, dass sich Hoden auch ausbilden konnten, wenn das Sry-Gen nicht vorhanden war; in anderen Fällen war das Sry-Gen vorhanden und es hatten sich dennoch keine Hoden ausgebildet.

Interessant ist nun an der neuerlichen Studie (Mäuse-Experiment; Mutanten), dass das Sry-Gen einmal mehr kritisch diskutiert wird. Mathias S. Gierl, Wolfram H. Gruhn, Annika von Seggern, Nicole Maltry und Christof Niehrs (Mainz, BRD) beschrieben für das Gadd45g-Gen eine weitreichende Wirkung in der Geschlechtsentwicklung bei Mäusen. Es sei dem Sry-Gen "vorgeschaltet" - die Forschenden vermuten es also als bedeutsamer bei der Ausbildung von Hoden, als Sry. Interessant dabei ist, dass dieses - nun als wichtig postulierte Gen - gerade regelmäßig nicht auf dem Y-Chromosom anzutreffen ist.

Bei einer gründlichen Sicht auf die vorliegenden Erkenntnisse der Genetik gelangt man zu einem immer differenzierteren Bild der Geschlechtsentwicklung: Gene wirken in Netzwerken zusammen und es kommt auf das Wechselspiel der genetischen Faktoren, zudem eingebunden in Regulationsmechanismen der Zelle (!), an, wie sich der Genitaltrakt entwickelt. Für einmalige Schlagzeilen in Medien immer wieder neuere Forschungen so zu präsentieren, dass man jetzt "das Gen für die Geschlechtsentwicklung" gefunden habe, ist hingegen problematisch, da sich ohnehin zeigt, dass in populäre Auffassungen zur Geschlechtsentwicklung an simpelsten Vorannahmen festgehalten wird und das Wissen in der Bevölkerung über die Entwicklung des Genitaltraktes kaum über den Stand der 1960/70er Jahre hinaus geht. Eine seriöse Ergebnis-Präsentation könnte hilfreich sein.

Ein gut lesbarer Zugang zu einem komplexen Verständnis der Geschlechtsentwicklung findet sich hier. Ausführlich hier (3. Kapitel).

Hier ist die Studie ("GADD45G Functions in Male Sex Determination by Promoting p38 Signaling and Sry Expression") zu finden - im Volltext in der Regel von einem Computer einer Universitätsbibliothek zugänglich. (Weitere Links: Institut / Arbeitsgruppe)

Anbei ein kleiner Hinweis auf das sehr gute Papier „Fakten und Mythen in der Beschneidungsdebatte“, in dem der deutsche Diskurs reflektiert und gängige Vorannahmen diskutiert werden. Hier ist es bei Bündnis 90 / Die Grünen Berlin verlinkt.

Ausführlich zur Debatte in Kürze: Interventionen gegen die deutsche "Beschneidungsdebatte"

Während der Deutsche Ethikrat in seinen Empfehlungen sehr vage blieb, wichtige neuere Forschungsergebnisse nicht heranzog und insbesondere die zentralen Forderungen der Verbände intergeschlechtlicher Menschen nicht in gleichem Maße wie die Vorstellungen der Medizin thematisierte (vgl. hier), legt die Ethikkommission der Schweiz eine klare Stellungnahme vor, die weggeht vom Skalpell, hin zu einer psychologischen Begleitung. Fragen sind nun eher: Wie kann ein Kind psychologisch unterstützt werden, mit geschlechtlich uneindeutigen Genitalien zu leben; wie können Eltern und das soziale Umfeld unterstützt werden, ihre eigenen Ängste abzubauen.

Auch wenn auch hier eine "Hintertür" für die gewaltvollen und traumatisierenden Eingriffe der Medizin noch offengehalten ist, so wird doch ein klarer Hinweis auf die zu ändernde Behandlungspraxis gegeben: "Als Grundsatz für den Umgang mit DSD sollte Folgendes gelten: Alle nicht bagatellhaften, geschlechtsbestimmenden Behandlungsentscheide, die irreversible Folgen haben, aber aufschiebbar sind, sollten aus ethischen und rechtlichen Gründen erst dann getroffen werden, wenn die zu behandelnde Person selbst darüber entscheiden kann. Dazu zählen geschlechtsbestimmende Operationen an den Genitalien und die Entfernung der Gonaden, wenn für diese Eingriffe keine medizinische Dringlichkeit (zum Beispiel ein erhöhtes Krebsrisiko) besteht. Ausnahmen gelten dann, wenn der medizinische Eingriff dringend ist, um schwere Schäden an Körper und Gesundheit abzuwenden." Ausnahmen werden hier stark eingegrenzt und richten sich auf die selten vorkommenenden Begleiterscheinungen (etwa Salzverlust), die tatsächlich medizinische Eingriffe erforderlich machen, um einen gesundheitsbedrohlichen Zustand abzustellen. Mit der Behandlung solcher "Begleiterscheinungen" ist aber nicht verbunden, dass das Genital vereindeutig werden müsste - vielmehr wird das in dieser Empfehlung auf einen späteren Zeitpunkt verlagert, an dem der jeweilige Mensch selbst darüber entscheiden kann, ob er die gefahrvollen geschlechtsvereindeutigen Eingriffe möchte und ggf. welche. Wichtig also: Die Medizin (und ihre Normalisierungstechniken) tritt endlich wieder etwas zurück und die elterliche Sorge für das Wohl des eigenen Kindes und die eigene Entscheidung des jeweiligen Menschen werden bedeutsam!

Es ist zu wünschen, dass im gesetzlichen Verfahren in der Schweiz nicht weitere "Hintertüren" für das bisherige gewaltsame und traumatisierende Behandlungsprogramm eingebaut werden, dass also klare Regelungen getroffen werden, die geschlechtsvereindeutigende Eingriffe ausschließen. Und auch für die Debatte in der Bundesrepublik Deutschland lässt sich zumindest aus der Deutlichkeit der Ableitung lernen.

Stellungnahme der Schweizer Ethikkommission.

Einordnung von der schweizer Gruppe Zwischengeschlecht: hier und hier.

In der aktuellen ZEIT ist ein sehr sehr guter Beitrag zur deutschen "Beschneidungsdebatte" erschienen. Unter dem Titel "Markierte Körper" erläutert Michel Chaouli exzellent, was auch in emanzipatorischen linken Kreisen in den vergangenen Wochen nicht oder nur schwer verstanden wurde: Das "Bild des »natürlichen Leibes« [...] ist ein Phantom". Hier geht es zum Beitrag auf ZEIT online.

Sehr schön endlich mal wieder einen intelligenten Beitrag zur Debatte zu lesen! Und als Ausblick: In wenigen Wochen erscheint auch unser Band "Interventionen gegen die deutsche «Beschneidungsdebatte»", in dem der sehr tolle Beitrag von Zülfukar Çetin und Salih Alexander Wolter ausführlich in gleicher Richtung argumentiert. Hier findet sich ein erster Blick auf den Band und hier auch direkt auf den Beitrag von Zülfukar Çetin und Salih Alexander Wolter. Der Band wird am 27.11.2012 ausgeliefert!

Vorankündigung: Die Edition Assemblage wird Ende November 2012 einen aktuellen Band zur sogenannten Beschneidungsdebatte veröffentlichen:

Zülfukar Çetin, Heinz-Jürgen Voß, Salih Alexander Wolter:
Interventionen gegen die deutsche «Beschneidungsdebatte»

Edition Assemblage
96 Seiten, 9,80 Euro
erscheint am 27.11.2012 (vorbestellbar - beim Verlag und im Buchhandel)
ISBN 978-3-942885-42-3

Kurztext:
Kaum eine Debatte der letzten Jahre wurde in der Intensität geführt, wie die zur Vorhautbeschneidung (Zirkumzision). Interessant ist schon der Debattenverlauf, der nicht mit der Urteilsverkündung des Kölner Landgerichts Anfang Mai 2012 einsetzte, sondern erst sechs Woche später. Dafür gibt es Gründe. Auffallend war die weitgehende Zurückhaltung von Parlamentarier_innen und der medizinischen Fachgesellschaften - im Gegensatz zu anderen gesellschaftlichen Akteur_innen, die eine vehemente Position gegen die Zirkumzision einnahmen. Dieser Band interveniert hier fundiert: Zülfukar Çetin und Salih Alexander Wolter beleuchten den Diskursverlauf und erarbeiten im Anschluss an die »Dialektik der Aufklärung« und Michel Foucaults Gouvernementalitätsstudien, wie selbst die geäußerten »atheistischen« Positionen von einem protestantisch-christlichen Religionsverständnis, von Herrschaft sowie rassistischen - antisemitischen und antimuslimischen - Einstellungen durchwoben sind. Heinz-Jürgen Voß untersucht die medizinischen Studien zur Auswirkung der Vorhautbeschneidung und stellt die Ergebnisse klar vor.

Wir danken den beteiligten Verlagen, die diese gemeinsame wissenschaftliche und aktivistische Intervention in eine hoch aktuelle Debatte ermöglichen – neben der Edition Assemblage sind dies das von Farid Hafez herausgegebene Jahrbuch für Islamophobie-Forschung 2013 und die Fachzeitschrift Sexuologie. --> Die ersten Absätze des Buches finden sich auf der Homepage von Salih Alexander Wolter!