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Noch einmal ein kleiner Literaturhinweis, weil ich gerade noch einmal lese. Helga Satzinger erläutert in "Differenz und Vererbung" auch, wie bestimmte Chromosmen- und Hormontheorien bzgl. Geschlecht von anderen abgelöst wurden:

„In den Jahren zuvor [in den 1920er Jahren] war das Konzept der genetischen und hormonellen Geschlechterwandlung und -mischung sehr breit diskutiert worden, die Dominanz des bipolaren Modells war erst in den 1930er Jahren durch das Fehlen ihrer Vertreter, die emigrieren mussten, zustande gekommen.“ (Satzinger 2009: 399)

Satzinger (2009) liefert ganz wichtige Zugänge für Geschlechterforschung und Naturwissenschaft - wie bestimmte Theorien erdacht wurden, welchen Anteil Frauen daran haben; ...und welchen Einfluss politische Rahmenbedingungen haben - der Hitlerfaschismus in Deutschland. Es ist eine exzellente Arbeit und sollte Grundlage für zahlreiche weitere Ausarbeitungen sein!

Satzinger, H. (2009): Differenz und Vererbung: Geschlechterordnungen in der Genetik und Hormonforschung 1890 – 1950. Köln etc.: Böhlau Verlag. Hier findet sich eine Rezension.

In Wissenschaften entscheidet das Geschlecht über Gehalt und Karrieremöglichkeit - eine weitere Studie kommt wiederum zu diesem Ergebnis. In der Süddeutschen Zeitung findet sich hierzu ein lesenswerter knapper Beitrag, in dem es u.a. heißt: "Allein der Vorname, aus dem Arbeitgeber das Geschlecht von Bewerbern ablesen können, entscheidet bei jungen Wissenschaftlern offenbar über Karriere und Verdienst. Steht in den Unterlagen "John", bieten Professoren aus den Naturwissenschaften 14 Prozent mehr Gehalt und eine bessere Förderung an, als wenn sie "Jennifer" lesen."

Zum Beitrag in der Süddeutschen gehts hier.

Zur Studie, die frei im Volltext verfügbar ist, gehts hier.

Marion Denis hat mit "double blind" aktuell wieder eine bemerkenswerte Arbeit vorgelegt. Dort geht sie künsterlisch der Frage nach, wie Geschlecht in den Wissenschaften Biologie und Medizin konkret hergestellt wird. Denis hat hierzu Laborkulturen ins Visier der Kamera genommen und die entstandenen Fotografien mit Interviews und Texten kontextualisiert. Das Ergebnis ist nun als Ausstellung in Berlin zu betrachten - und in einem Band erschienen. Beide seien wärmstens empfohlen.

Informationen zur Ausstellung.

Informationen zum Buch.

Homepage von Marion Denis.

In Dresden, Leipzig und Halle demonstrieren vom 23. bis 29.9. Intersexuelle gegen die gewaltvollen und traumatisierenden medizinischen geschlechtszuweisenden Eingriffe und die gesellschaftliche Behandlung Intersexueller. Es finden zahlreiche Veranstaltungen statt, zu der auch Interessierte und Unterstützende eingeladen sind. Informationen finden sich bei Zwischengeschlecht.info.

Vorhautbeschneidung bei Jungen: Weg von Vorannahmen, hin zu fundierter Diskussion.
Heinz-Jürgen Voß
(als pdf-Datei)

Ich habe in den vergangenen Wochen intensiv die Debatten um die Vorhautbeschneidung bei Jungen verfolgt. Ich hätte mir gewünscht, dass ein ähnlich intensives Streiten bzgl. der medizinischen Gewalt gegen Intersexe stattgefunden hätte. Im Gegensatz zur Vorhautbeschneidung bei Jungen kämpfen hier seit Jahrzehnten Menschen gegen die als grauenvoll empfundenen Behandlungen und ihre Folgen.
Bzgl. der Vorhautbeschneidungen bei Jungen gibt es im deutschsprachigen Raum dieses Streiten von selbst betroffenen Menschen hingegen nicht. Aber statt das als Hinweis zu nehmen, dass hier kein solches Streiten erforderlich ist oder dass es etwa nicht so dringlich ist, wurde argumentiert, ‚die beschnittenen Männer wüssten ja nicht, was ihnen bzgl. Sensitivität entgehe‘. Das eigene Empfinden und die eigene Vorannahme wurde auf andere Menschen übertragen – ein Vorgehen, dass nicht zuletzt durch Sexualwissenschaft, Gender und Queer studies und Intersektionalitätsforschung als inakzeptabel erwiesen ist.
Die Debatte ist aufgeladen, gerade weil vom Kölner Landgericht ein Urteil gefällt wurde, was gut in den strukturellen Rassismus in der Bundesrepublik Deutschland passt. Aber das sollte nicht zu voreiligen Kurzschlüssen verleiten, sondern gerade als Forderung an Wissenschaftler_innen und gut informierte Interessierte verstanden werden, genau nachzuschauen, nachzufragen und zu analysieren.

Zur Kenntnis zu nehmen ist dabei: Weiterlesen » » » »

Intersexualität: Aktuelle Entwicklungen (Heinz-Jürgen Voß)
(zuerst in: SINa - Sexualwissenschaftlicher Interdisziplinärer Nachwuchs, 2 (2012): 7-9.)

In den vergangenen Monaten ist Bewegung in die Debatte um die medizinische Behandlungspraxis von intergeschlechtlichen Kindern gekommen. Von den früher entsprechend dem Programm Behandelten werden die medizinischen Interventionen als gewaltvoll und traumatisierend beschrieben. Auch die wissenschaftlichen Outcome-Studien, die die anatomischen und funktionalen Behandlungsergebnisse sowie die Behandlungszufriedenheit erheben, stützen die Sicht der politisch streitenden behandelten Menschen. Zuletzt kommen Katinka Schweizer und Hertha Richter-Appelt (2012) zum Schluss: „Insgesamt fällt eine hohe Beeinträchtigung des körperlichen und seelischen Wohlbefindens auf. So litten über 60% der Teilnehmenden sowohl unter einer hohen psychischen Symptombelastung als auch unter einem beeinträchtigten Körpererleben. […] Die psychische Symptombelastung, die z.B. anhand depressiver Symptome, Angst und Misstrauen erfasst wurde, entsprach bei 61% der Befragten einem behandlungsrelevantem Leidensdruck […]. Auch hinsichtlich Partnerschaft und Sexualität zeigte ein Großteil der Befragten einen hohen Belastungsgrad. […] Fast die Hälfte (47%) der Befragten, die an den Genitalien operiert wurden, berichteten sehr viel häufiger über Angst vor sexuellen Kontakten und Angst vor Verletzungen beim Geschlechtsverkehr als die nicht-intersexuelle Vergleichsgruppe“ (Schweizer et al. 2012: 196f; Übersicht über die internationalen Outcome-Studien in: Voß 2012).

Und auch der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend des Deutschen Bundestages kommt nach seiner Sitzung im Juni zu einem eindeutigen Urteil. In der Pressemitteilung vom 25. Juni 2012 heißt es: „Operationen zur Geschlechtsfestlegung bei intersexuellen Kindern stellen einen Verstoß gegen das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit dar und sollen zukünftig unterbunden werden. Dies war das einhellige Votum der öffentlichen Anhörung im Familienausschuss am Montagnachmittag.“ (Familienausschuss 2012) Weiterlesen » » » »

Parthenogense - ungeschlechtliche Fortpflanzung oder "Jungerfernzeugung" - ist bei den Organismen weit verbreitet. Selbst bei Tierarten, bei denen auch geschlechtliche Fortpflanzung möglich ist (als Gattungsmerkmal - es muss keineswegs alle oder die Mehrheit der Individuen einer Art betreffen), findet ungeschlechtliche Fortpflanzung statt und könnte - evolutionär gesehen - von Vorteil zu sein.

Hierzu gibt es eine neue Studie, die explizit Schlangen untersuchte - und parthenogenetische Fortpflanzung nachweisen konnte, obwohl ein deutlicher Überschuss als männlich eingeordneter Individuen feststellbar gewesen sei. Die vollständige Studie findet sich hier: Facultative parthenogenesis discovered in wild vertebrates.

Einen sehr guten deutschsprachigen Überblick über Parthenogeneseforschung hat Prof. Smilla Ebeling bereits 2002 veröffentlicht - sie ist sehr empfehlenswert: "Die Fortpflanzung der Geschlechterverhältnisse. Das metaphorische Feld der Parthenogenese in der Evolutionsbiologie." (Mössingen-Thalheim: Talheimer Verlag).

Wie aus einer Pressemitteilung der CDU/CSU hervorgeht, streben die Koalitionsparteien keine grundlegende Änderung der medizinischen behandlungspraxis an. Vielmehr fordern sie in schön verkalusulierten Worten, dass lediglich "irreversible Operationen an Kindern und Jugendlichen ohne medizinische Indikation" unterbunden werden sollten. Aber genau die medizinische Indikation ist das Problem: Auf Basis der medizinischen Indikation werden bislang die geschlechtszuweisenden Eingriffe vorgenommen, die von den so behandelten Menschen als äußerst gewaltvoll und traumatisierend beschrieben werden. Und auch die aktuellen wissenschaftlichen Studien evaluierten die geschlechtszuweisenden Eingriffe als schlecht und dass sie den Patient_innen schaden und nicht nützen. Es ist also weiteres Streiten erforderlich - aktuell finden in Hamburg, Leipzig, Halle und Dresden Proteste statt. Und hier nun die Pressemitteilung der CDU/CSU:

"Die CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag hat gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner, der FDP-Fraktion, am Montag ein Fachgespräch zum Thema „Diskriminierung von intersexuellen Menschen beseitigen“ veranstaltet. Dazu erklären die familienpolitische Sprecherin der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Dorothee Bär, sowie der zuständige Berichterstatter Peter Tauber:
„Das Fachgespräch der Koalition zum Thema Intersexualität hat eindeutigen Handlungsbedarf aufgezeigt. In den Ausführungen der Sachverständigen wurde deutlich, dass Intersexuelle nicht gezwungen sein dürfen, sich im Personenstandsregister in die Kategorien ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ einzuordnen. Denn dies stellt einen nicht zu rechtfertigenden Eingriff in ihr Persönlichkeitsrecht dar. Zudem muss künftig verhindert werden, dass irreversible Operationen an Kindern und Jugendlichen ohne medizinische Indikation vorgenommen werden, mit denen sie - womöglich gegen ihren Willen - zu Frau oder Mann gemacht werden.
Das Thema darf nicht länger tabuisiert werden. Die Änderungen, die schon der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme zum Thema Intersexualität im Februar 2012 gefordert hatte, wollen wir nun konkret angehen. Nur so vermeiden wir Diskriminierungen.“"
Quelle: Homepage der Fraktion.

Unter dem Titel "Sex sells. Sex and Brain sells even better" findet sich bei Die Standard ein lesenswerter Beitrag zur Herstellung von Geschlechterdifferenzen durch die Hirnforschung: "Die Neurowissenschaften konstruieren medienwirksam männliche und weibliche Gehirne - Diese Befunde stehen aber mitunter auf methodisch wackeligen Beinen." --> zum Beitrag

Weiterhin lesenswert zum Thema:

Schmitz, S. (2004): Wie kommt das Geschlecht ins Gehirn? Über den Geschlechterdeterminismus in der Hirnforschung und Ansätze zu seiner Dekonstruktion. Forum Wissenschaft, 4 (2004).
Online: http://www.linksnet.de/de/artikel/19193

Fausto-Sterling, A.: Sexing the Body – Gender Politics and the Construction of Sexuality. New York 2000.

Und populär orientiert, aber wissenschaftlich basiert:

Quaiser-Pohl, C. et al. (2007): Warum Frauen glauben, sie könnten nicht einparken und Männer ihnen Recht geben. Über Schwächen, die gar keine sind. Beck bzw. DTV.

Fine, C. (2012): Die Geschlechterlüge - Die Macht der Vorurteile über Frau und Mann. Klett-Cotta.

Zwischengeschlecht.org organisiert Proteste gegen geschlechtszuweisende Eingriffe bei Intersexen in Leipzig, Halle und Dresden. Anlass sind zwei Kongresse einschlägiger medizinischer Fachgesellschaften, die im September in Leipzig stattfinden. Interessierte sind eingeladen, die friedlichen Proteste zu unterstützen - also nicht (!) zu dominieren.

Weitere Informationen hier, auf zwischengeschlecht.info.