Im Anschluss an die Forschungen des Nazis Adolf Butenandt hält sich populär hartnäckig die Vorstellung der eingeschlechtlichen Wirkung der "Geschlechtshormone". Dabei hatte schon Ende der 1920er Jahre, Anfang der 1930er Jahre der jüdische Wissenschaftler Bernhard Zondek bei dem männlichen Pferd ungewöhnlich viel als "weiblich" betrachtetes Östrogen feststellen können. Während Zondek emigrieren musste, setzte Butenandt die Hormonforschungen im Dritten Reich und schließlich in der Bundesrepublik Deutschland fort - und versuchte eine eindeutige Wirkungsweise von einerseits "weiblichen", andererseits "männlichen Geschlechtshormonen" nachzuweisen. Aber auch er kam zu widersprüchlichen Ergebnissen, so dass er eine Hormongruppe als "intersexuelle Hormone" ausgliederte.
Mittlerweile hat sich in der Hormonforschung und der Entwicklungsbiologie aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass Östrogene und Androgene nicht strikt geschlechtlich zu unterscheiden sind. Vielmehr verweisen sie auf einen gemeinsamen Biosyntheseweg, werden jeweils sowohl in Hoden als auch Eierstöcken (aber selbst in anderen Organen) gebildet und ihre Wirkungsweise ist keineswegs auf als "geschlechtlich" betrachtete Funktionen einzuschränken, sondern sie sind bedeutsam für die Ausbildung zahlreicher lebenswichtiger Organe. Bereits in dem Band "Mechanisms of Hormone Action" (Austin/Short 1979) fand das prominent und quasi selbstverständlich Erwähnung (Vgl. Abb. 1 und 2), aber auch in den heutigen wissenschaftlichen Lehrbüchern und Facharbeiten bildet diese Erkenntnis eine Selbstverständlichkeit (vgl. bspw. die Lehrbücher Stryer 1999 [1995]: 739ff; Horn 2009: 398ff; Schartl 2009: 719ff - einführend in "Geschlecht: Wider die Natürlichkeit", S.137ff dargestellt).
Abbildung 1, aus: "Mechanisms of Hormone Action" (Austin/Short 1979), S.64.
Abbildung 2, aus: "Mechanisms of Hormone Action" (Austin/Short 1979), S.65.
Abbildung 1 zeigt deutlich den gemeinsamen Biosyntheseweg von Östrogenen (als "weiblich" betrachteten "Geschlechtshormonen") und Androgenen (als "männlich" betrachteten "Geschlechtshormonen") - hier am Beispiel ihrer Bildung im Hoden. Die Androgene Testosteron und Andorstendion werden zu den Östrogenen Östradiol bzw. Östron umgebildet. Andererseits können auch die Östrogene in Androgene umgebildet werden. Und selbst Progesteron, dem ja oft allein für die Schwangerschaft Bedeutung beigemessen wird, zeigt sich in der Biosynthese zentral eingeordnet - auch in männlichen Hoden. (Das zeigt recht umfassend und gut sogar der Wikipedia-Artikel zu Progesteron.)
Abbildung zwei zeigt, dass sowohl in "Eierstöcken", als auch in "Hoden" eine Arbeitsteilung zwischen verschiedenen Zelltypen stattfindet. Dabei ist die Aufteilung und Wirkung dieser Zelltypen auffällig ähnlich. Also: Die als "weiblich" betrachteten Thekazellen übernehmen Funktionen wie die als "männlich" betrachteten Leydigzellen. Die Granulosazellen zeigen auffällige Gemeinsamkeiten mit den Sertolizellen. Eine begriffliche Unterscheidung dieser Zellen wurde vorgenommen, vor dem Hintergrund ihrer deutlichen Ähnlichkeiten in den Funktionen wäre es aber genauso gerechtfertigt, sie nicht unterschiedlich zu benennen. Thekazellen/Leydigzellen könnten einen gemeinsamen Namen tragen, Granulosazellen/Sertolizellen ebenfalls einen gemeinsamen Namen.
Das zeigt Zusammenhänge auf, die darauf zurückzuführen sind, dass sich in der Embryonalentwicklung des Genitaltraktes zunächst ein gemeinsamer, indifferenter Ausgangspunkt zeigt, aus dem sich eine Keimdrüse entwickelt, die sich dann mehr oder weniger eindeutig differenzieren kann. Sie kann als Eierstockgewebe, als Hodengewebe oder als nicht entsprechend differenziertes Gewebe tief im Körperinneren verbleiben oder in die Hodensäcke hinabsinken und dort mehr oder weniger differenziert vorliegen und ggf. "funktionstüchtige Hoden" darstellen und Spermien bilden können.
Einführend weiterlesen kann man in den folgenden guten Bestandsaufnahmen zur Hormonforschung. Und auch ein Blick in die gängigen biologischen und medizinischen Lehrbücher und Fachartikel zeigt, dass die populäre Sicht der eingeschlechtlichen Bildung und Wirkung von "Geschlechtshormonen" nicht zutrifft.
Zum weiterlesen:
1) Gute kritische Übersichten:
Fausto-Sterling, A. (1992): Myths of Gender. Biological Theories about Women and Men. BasicBooks, New York
Fausto-Sterling, A. (2000): Sexing the Body – Gender Politics and the Construction of Sexuality. Basic Books, New York.
Oudshoorn, N. (1994): Beyond the natural body: An archeology of sex hormones. Routledge, London etc.
Sengoopta, C. (2006): The Most Secret Quintessence of Life. Sex, Glands, and Hormones, 1850-1950. The University of Chicago Press, Chicago etc.
2) Einige gebräuchliche Lehrbücher:
Horn, F. (2009): Biochemie des Menschen. Das Lehrbuch für das Medizinstudium. Thieme Verlag, Stuttgart etc.
Schartl, M., Gessler, M., Eckardstein, A. von (Hrsg., 2009): Biochemie und Molekularbiologie des Menschen. Elsevier / Urban & Fischer, München.
Stryer, L. (1999 [engl. 1995]: Biochemie. Spektrum, Heidelberg etc.
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