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Die Rückkehr der Geschlechterbinarität – und ein wirksames Gegengift: selber Denken.

„Es ist, als müßte um jeden Preis ein Fehltritt vermieden werden; am besten bewahrt uns vor einem solchen Fehltritt eine sexuelle Differenzierung, die auf den ersten Blick erkennen läßt, ob ein bestimmtes Individuum zu der Gruppe möglicher Sexualobjekte gehört oder nicht.“
(A. G. Düttmann, nach: Hirschauer, 1999 S.62)

Insbesondere die Frauenbewegungen aber auch Erkenntnisse anschließend an die „Bisexualitäts-Theorie“ haben Geschlecht als kulturell konstruiert ausgewiesen und breit in biologische Forschungen und medizinische Behandlungen Eingang halten lassen. Jeder Mensch sei Mann und Frau, trage Eigenschaften von beiden Geschlechtern in sich, die sich später durch Sozialisationsprozesse mehr oder weniger eingeschlechtlich ausformen würden (Bisexualitäts-Theorie). Diese Vorannahme fand in medizinischen Programmen zur Behandlung von Menschen mit „uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen“ Umsetzung, wobei – wie bei allen Kindern – zunächst über Klitoris/Penislänge bestimmt wird, ob es sich um einen ‚Jungen’ oder ein ‚Mädchen’ handele. Das derzeit noch immer in der Anwendung befindliche Behandlungsprogramm der „frühen Geschlechtszuweisung“ wurde in den 1950er Jahren von J. Money, J. Hampson und J. Hampson eingeführt. In diesem wird davon ausgegangen, dass ein Kind bei der Geburt geschlechtlich neutral sei und das sich insbesondere zwischen dem 18. und 48. Lebensmonat die Geschlechterrolle durch soziale Prozesse auspräge. Mit diesem Behandlungsprogramm waren und sind operative und hormonelle Maßnahmen verbunden, um insbesondere die äußeren Genitalien an das Erwartungsbild einer zweigeschlechtlich normierten Gesellschaft anzugleichen. In diesem Sinne führten J. Money und A. Ehrhardt in den 1970er Jahren aus: „Eltern warten neun Monate gespannt darauf, ob ihr Kind ein Mädchen oder ein Junge ist. Sie denken selten daran, daß sie damit auch auf ein entscheidendes Signal warten, wie sie sich dem Baby gegenüber verhalten sollen. Das Aussehen der äußeren Geschlechtsmerkmale und deren Einstufung als weiblich oder männlich setzt eine Reihe von Ereignissen in Gang. Mit dem Ausruf ‚es ist ein Mädchen’ oder ‚es ist ein Junge’ beginnt eine Kette geschlechtsabhängiger Reaktionen der Umwelt. Rosa bzw. blaue Babywäsche, weibliche bzw. männliche Vornamen und Personalpronomen usw. Alle Menschen, mit denen das Kind in Berührung kommt, werden es geschlechtstypisch behandeln, Tag für Tag, jahrein, jahraus, von der Geburt bis zum Tod.“ (Money, 1975 S.24-5)

Dieses Behandlungsprogramm ist von Seiten ‚Betroffener’ (‚Betroffen-gemachter’) und von ethisch sensibilisierten Medizinerinnen in der Kritik, da sehr weitreichende, oft als traumatisch wahrgenommene, operative und hormonelle Eingriffe bereits bei Neugeborenen vorgenommen werden. Eine größere Intersexuellen-Bewegung beginnt sich auszubilden, die für das Selbstbestimmungsrecht von ‚Betroffenen’ eintritt – ‚Uneindeutigkeit’ der Genitalien würde damit, insbesondere rechtlich und medizinisch, möglich werden. Entgegen der medizinischen Relevanz sind ‚im Alltag’ „uneindeutige Genitalien“ kaum in der Diskussion; sie spielen im Alltag seltener eine Rolle, da sie durch Kleidung ohnehin verdeckt werden. „Uneindeutigkeit“ von Geschlecht findet im Alltag kaum statt, da wir stets bemüht sind, unsere erlernten Erkenntnisse von ‚Geschlecht’ auf Menschen, die uns begegnen, anzuwenden. Die Soziologin S. Hirschauer stellte in diesem Sinne fest, dass gerade bei Abwesenheit von Genitalien, u.a. durch das Tragen von Kleidung, ‚Geschlechterdifferenzierungen’ routinemäßig produziert und aufgegriffen werden. Tätigkeiten, Gesten, Gesichter, Fotografien, Vornamen, Artefakte, Körperteile bilden ein dichtes, kulturelles Gewebe von ‚Geschlechtszeichen’, so genannte „kulturelle Genitalien“. Gestärkt werden sie durch ein komplexes, (z.T. institutionalisiertes) Zeichensystem, mit dem 'Geschlechterdifferenzen' in alle gesellschaftlichen Bereiche eingewoben sind: vergeschlechtlichte Arbeitsteilung, Berufe, Lokalitäten (wie sanitäre Anlagen, spezielle Kaufhausabteilungen, Umkleidekabinen) und Organisationen (wie die heterosexuelle Ehe; vgl.: Hirschauer, 1994 S.675-9). Ein unbedingtes Interesse sollte also darin bestehen, solche starr zweigeschlechtlich unterteilenden gesellschaftlichen Praktiken abzubauen! Dies würde nicht nur für ‚intersexuelle’ Menschen selbstbestimmte Möglichkeiten schaffen, sonderen es würden sich für alle Menschen mehr Spielräume ergeben, bspw. bei der Wahl der Sexualpartnerinnen, die dann nicht mehr starr in homo- oder heterosexuell unterteilt werden müssten. Individuelle Merkmale von Menschen (nicht nur bezogen auf vergeschlechtlichte Merkmale) würden eher Anreiz zu Diskussionen, näherem Kennenlernen oder Begehren geben!

Derzeit stellt sich diese Entwicklung allerdings anders dar. Gegegen die Theorien sehr weitreichend sozial geprägter Geschlechter und Geschlechterrollen werden Argumente angeführt, die den ganzen Menschen in all seinen Merkmalen, insbesondere im Gehirn, bereits embryonal bzw. sehr früh nach der Geburt als geschlechtlich entweder männlich oder weiblich ausgeprägt betrachten. Seit den 1990er Jahren beginnen solche Theorien des vergeschlechtlichten Gehirns dominant zu werden. Erst jüngst führte die Zeitschrift „Die Zeit“ in ihrer Wissensbeilage vom 28. Juni 2007 aus, dass emanzipatorische Geschlechterkonzepte gescheitert seien – und Kinder vermehrt eindeutig geschlechtliche Rollen – als Mädchen oder Junge – annehmen würden. „Die Zeit“ fand die Begründung in „natürlichen Anlagen“, nicht etwa in einer geschlechtlich diskriminierend geprägten Gesellschaft, die „Uneindeutigkeit“ juristisch nicht vorsieht, die „Uneindeutigkeit“ medizinisch bekämpft und die im Alltagsleben allgegenwärtig einen „eindeutigen Geschlechtsbezug“ abverlangt. Auch die Tageszeitung „Welt kompakt“ führte in ihrer Wissensausgabe vom 26. Juni 2007 (exemplarisch benannt) aus, wie bestimmte pflanzliche Stoffe, „Schwellungen der Brustdrüsen […] auch bei Jungen“ verursachten. Nicht thematisierte sie, warum sich Eltern überhaupt genötigt sahen, bei sich vergrößernden Busen bei Jungen, Medizinerinnen aufzusuchen. ‚Geschlecht’ ist im Fokus, Menschen werden genötigt sich darum Sorgen zu machen und ggf. bei ‚Expertinnen’ Rat zu suchen.

Die ‚Expertinnen’ gibt es dabei gar nicht. So haben die unterschiedlichsten Disziplinen von Biologie und Medizin die unterschiedlichsten Konzepte von Geschlecht entwickelt. Genetikerinnen fokussieren die Gene als bestimmend, wobei sich spätenstens mit dem Humangenom-Projekt 2001 (Entschlüsselung der Basenabfolge des menschlichen Genoms) eher Ernüchterung breit gemacht haben sollte, da der Mensch nur etwa ein Drittel mehr Gene als der unscheinbare Fadenwurm besitzt. Neurobiologinnen und Endokrinologinnen betrachten insbesondere geschlechtliche Formung von Gehirnen als zentral, eine Betrachtung die u.a. durch die Arbeiten der Neurobiologin C. Nitsch erschüttert wurde, die Auswirkungen auf die Ausprägung von Hirnstrukturen bspw. durch das frühe oder späte Erlernen einer Zweitsprache – also durch soziale Prozesse und auch nicht ‚geschlechtlich’ verschieden – ausführte. In der Medizin werden hingegen insbesondere äußere Genitalien zentral gesetzt, die einem Kind erst die Selbstidentifikation mit einem ‚Geschlecht’ und die Abgrenzung gegenüber ‚dem anderen Geschlecht’ ermöglichten. Biologisch-medizinische ‚Geschlechtermodelle’ sind schon vor dem Hintergrund fraglich, dass Biologie und Medizin gar nichts anderes kennen wollen als zwei und nur zwei Geschlechter: Für alle Untersuchungen, die sie anstellen, setzen sie ‚zwei Geschlechter’ trivial voraus. Mit einer begrenzten Anzahl freiwilliger ‚Probandinnen’ wird es bei dieser willkürlichen, stets ‚männlichen’ und ‚weiblichen’ Unterteilung von Stichproben, stets gelingen, Differenzen zu beschreiben! Um dies anders auszudrücken (und so gilt es auch für andere ‚Naturwissenschaften’): „Durch geschickte Wahl der Grenzen und wohldefinierte Ursache-Wirkungen-Beziehungen konnte die Natur im Experiment genötigt werden, sich gesetzmäßig zu äußern.“ (Mußmann, 1995 S.79). Insofern: Hinterfragen wir ‚wissenschaftliche Erkenntnisse’ – und nehmen wir Dinge als änderbar wahr, die als ‚natürlich’ beschrieben werden, auch wenn uns vorherrschende Erklärungsmodelle im ersten Moment als einleuchtend erscheinen sollten!

Quellen: Hirschauer, S. (1994): Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 46 (4): S.668-92. Hirschauer, S. (1999 (1993)): Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Money, J. Ehrhardt, A.A. (1975): Männlich – Weiblich: Die Entstehung der Geschlechtsunterschiede. Mußmann, F. (1995): Komplexe Natur – Komplexe Wissenschaft. Selbstorganisation, Chaos, Komplexität und der Durchbruch des Systemdenkens in den Naturwissenschaften.

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