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Königskinder und das tiefe, trübe Wasser. Zum deutschen „Inzestverbot“

Zuerst veröffentlicht und zitierbar: Voß, Heinz-Jürgen / Zaft, Matthias (2014): Königskinder und das tiefe, trübe Wasser - Zum deutschen "Inzestverbot". Sexuologie - Zeitschrift für Sexualmedizin, Sexualtherapie und Sexualwissenschaft, 21 (3-4): 167-173.

Königskinder und das tiefe, trübe Wasser. Zum deutschen „Inzestverbot“
von Heinz-Jürgen Voß und Matthias Zaft
(Beitrag als pdf-Datei.)

§173 StGB Beischlaf zwischen Verwandten
(1) Wer mit einem leiblichen Abkömmling den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Wer mit einem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft; dies gilt auch dann, wenn das Verwandtschaftsverhältnis erloschen ist. Ebenso werden leibliche Geschwister bestraft, die miteinander den Beischlaf vollziehen.
(3) Abkömmlinge und Geschwister werden nicht nach dieser Vorschrift bestraft, wenn sie zur Zeit der Tat noch nicht achtzehn Jahre alt waren.

In seiner Stellungnahme vom 24.9.2014 hat der Deutsche Ethikrat mit einem Mehrheitsvotum –14 zu 9 Stimmen – den Gesetzgeber zu Änderungen der Strafbestimmung zu geschwisterlichem Inzest aufgefordert. Der Ethikrat empfiehlt, geschwisterlichen Inzest unter bestimmten Bedingungen nicht weiter unter Strafe zu stellen. In anderen Fällen regt er Strafverschärfungen an: Sexuelle Handlungen, die bislang nicht unter die Strafregelungen des §173 StGB fallen, sollten künftig ebenfalls erfasst werden.

Im Folgenden wird ein Überblick über die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates und die ihr zu Grunde liegende Debatte gegeben. Dabei soll die Argumentation der Stellungnahme auf implizite Denk- und Ordnungsfiguren hin befragt werden. Wir vertreten im vorliegenden Beitrag die Position, dass der §173 komplett entfallen sollte, da er unzulässig in das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung eingreift. Missbrauch, sexualisierte Gewalt, Ausnutzung von hierarchischen Positionen gegenüber Schutzbefohlenen sind unserer Ansicht nach ausreichend durch die allgemeinen – nicht auf Inzest fokussierten – gesetzlichen Regelungen abgedeckt, insbesondere durch §174 StGB „Sexueller Mißbrauch von Schutzbefohlenen“ und §176 StGB „Sexueller Mißbrauch von Kindern“.

Hintergrund und Stellungnahme des Ethikrates

Den Hintergrund der Stellungnahme bildet die strafrechtliche Verfolgung von Patrick S., der mit seiner Schwester Susanne K. zusammenlebt und mit ihr vier Kinder gezeugt hat. Patrick S. wurde von Amtsgericht und Oberlandesgericht zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, gegen die er zunächst beim Bundesverfassungsgericht, dann – nachdem er dort 2008 verloren hatte – beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Beschwerde einlegte. Diese wurde 2012 mit der Begründung zurückgewiesen, das Verbot des Beischlafs zwischen Verwandten sei mit Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar. Der Schutz überindividueller Rechtsgüter erfordere und erlaube eine fallweise Einschränkung persönlicher Rechte. Der Artikel im Wortlaut:

(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.

(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. (Art. 8, EMRK)

Die Regierung der Bundesrepublik Deutschland bestritt vor dem Europäischen Gerichtshof nicht, mit der Verurteilung des beschwerdeführenden Patrick S. in dessen Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens eingegriffen zu haben, verwies aber auf die Notwendigkeit des Eingriffs zur Aufrechterhaltung der Ordnung und zum Schutz der Moral:

Als der deutsche Gesetzgeber zu Beginn der siebziger Jahre eine Reform der angegriffenen Gesetzesbestimmung erörtert habe, sei ein vom Bundestag eingesetzter Sonderausschuss zu dem Schluss gelangt, dass diese Bestimmung zum Schutz von Ehe und Familie, zum Schutz des schwächeren Partners in einer Beziehung und zur Verhinderung genetischer Schädigungen beibehalten werden solle. Alle diese Ziele seien nach wie vor relevant und rechtfertigten die Bestrafung des Beschwerdeführers. (EMGR 2012)

Im Jahr 2008 hatte der Fall des Geschwisterpaares viel Aufmerksamkeit gefunden, darunter auch die von Fachmedien. Die meisten der Zeitschriftenbeiträge verhielten sich wohlwollend gegenüber den sich ‚liebenden Geschwistern‘ – eine gründliche und empfehlenswerte Analyse zu Diskurs und Strafrechtsbestimmungen legte Gisela Best in ihrem Buch „Zur Aktualisierung des Inzestverbots: Eine Erörterung anlässlich des Urteils des Bundesverfassungsgerichts“ (2010) vor.

Das Bundesverfassungsgericht beschied 2008 den aktuellen gesetzlichen Regelungen gegen den Beischlaf zwischen Verwandten Rechtmäßigkeit; der Gesetzgeber bewege sich „nicht außerhalb seines Einschätzungsspielraums […], wenn er davon ausgeht, dass es bei Inzestverbindungen zwischen Geschwistern zu gravierenden familien- und sozialschädigenden Wirkungen kommen [könne]“ (BVG 2008). Die Fokussierung auf Kindes- und Familienwohl lenkt den Blick auf die bestehenden Familien- und Geschlechternormen des Bundesverfassungsgerichts:

Für das Kindeswohl spielen auch die in der Familie gegebenen Verwandtschaftsverhältnisse, Rollenverteilungen und sozialen Zuordnungen eine wichtige Rolle […]. Familien- und sozialschädliche Wirkungen des Geschwisterinzests mögen mit sozialwissenschaftlichen Methoden schwer von den Wirkungen anderer Einflüsse isolierbar und daher nicht ohne weiteres greifbar sein […]. Dies ändert indes nichts an der Plausibilität der Annahme derartiger Wirkungen […]. Als negative Auswirkungen können sich danach ergeben: ein vermindertes Selbstbewusstsein, funktionelle Sexualstörungen im Erwachsenenalter, eine gehemmte Individuation, Defizite in der psychosexuellen Identitätsfindung und der Beziehungsfähigkeit, Schwierigkeiten, eine intime Beziehung aufzubauen und aufrechtzuerhalten, Versagen im Arbeitsumfeld, eine generelle Unzufriedenheit mit dem Leben, starke Schuldgefühle, belastende Erinnerungen an die Inzesterfahrung, Depression, Drogen- und Alkoholmissbrauch, Selbstverletzung, Essstörungen, Suizidgedanken, sexuelle Promiskuität und posttraumatische Erlebnisse sowie indirekte Schäden, auch für dritte Familienmitglieder, zum Beispiel durch Ausgrenzung oder soziale Isolation. (Ebd.)

Kaum ein unerwünschtes individuelles Verhalten oder gesellschaftliches Phänomen also, das sich nicht als Folge geschwisterlicher sexueller Beziehungen annehmen ließe. Auf die vom Bundesverfassungsgericht zugrunde gelegte „Plausibilität“ derartiger Ableitungen soll im zweiten Abschnitt des Beitrags eingegangen werden, zuvor zurück zu den AdressatInnen des Verbots einvernehmlichen Beischlafs.

Durch den §173 StGB werden sexuelle Handlungen und gelebte Familienmodelle sehr ungleich bewertet. So gilt der Paragraph nicht für Adoptiv- oder Stiefgeschwister. Und er bezieht sich ausschließlich auf den Beischlaf, richtet sich also lediglich gegen heterosexuellen Vaginalverkehr, nicht aber gegen gleich- oder andersgeschlechtlichen Anal- und Oralverkehr. Der unterschiedlichen Bewertung der Verhaltensweisen trug das Verfassungsgericht in der Begründung seines Urteils Rechnung. Es führt aus:

Der Einwand, die Strafnorm […] verfehle aufgrund ihrer lückenhaften Ausgestaltung […] die ihr zugedachten Zwecke […], verkennt, dass mit dem Verbot von Beischlafshandlungen ein zentraler Aspekt sexueller Verbindung zwischen Geschwistern unter Strafe gestellt wird, dem für die Unvereinbarkeit des Geschwisterinzests mit dem traditionellen Bild der Familie eine große Aussagekraft zukommt und der eine weitere sachliche Rechtfertigung in der grundsätzlichen Eignung dieser Handlung findet, über das Zeugen von Nachkommen weitere schädliche Folgen hervorzurufen. […]
Den Straftatbestand nicht auch auf den Beischlaf zwischen Stief-, Adoptiv- oder Pflegegeschwistern zu erstrecken, lässt sich zum einen damit begründen, dass entsprechende Handlungen in geringerem Maße dem traditionellen Bild der Familie widersprechen […]. Zum anderen bestehen insoweit keine vergleichbaren erbbiologischen Bedenken, und es liegt auch die Annahme nicht fern, zwischen leiblichen Geschwistern könnten in höherem Maße als zwischen Stief-, Adoptiv- oder Pflegegeschwistern Abhängigkeiten bestehen.
Der Umstand, dass beischlafähnliche Handlungen und sexueller Verkehr zwischen gleichgeschlechtlichen Geschwistern nicht mit Strafe bedroht sind, andererseits der Beischlaf zwischen leiblichen Geschwistern auch in den Fällen, in denen eine Empfängnis ausgeschlossen ist, den Straftatbestand erfüllt, stellt die grundsätzliche Erreichbarkeit der (Teil-)Ziele des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung und der Vorsorge vor genetisch bedingten Krankheiten nicht in Frage. (Ebd.; Hervorhebungen d. V.)

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof wies die Beschwerde von Patrick S. gegen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts mit Urteil vom 12.4.2012 zurück. Der Gerichtshof begründete dies damit, dass einerseits keine einheitliche rechtliche Behandlung von Inzest im internationalen Vergleich und diesbezüglich kein „Entkriminalisierungstrend“ feststellbar sei. Andererseits habe das Bundesverfassungsgericht die Rechtslage gründlich geprüft und auch eine gegenteilige Einschätzung zugelassen. Konkret heißt es in der Begründung des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs:

[Der] Gerichtshof [stellt] fest, dass zwischen den Mitgliedstaaten kein Konsens hinsichtlich der Frage besteht, ob einvernehmliche sexuelle Handlungen zwischen erwachsenen Geschwistern strafbar sein sollten […]. Jedoch sieht eine Mehrheit von 28 der 44 untersuchten Staaten eine Strafbarkeit vor. Der Gerichtshof weist weiter darauf hin, dass alle Rechtssysteme, einschließlich derjenigen, die keine Strafbarkeit vorsehen, die Ehe zwischen Geschwistern verbieten. Es ist also ein breiter Konsens dahingehend zu erkennen, dass sexuelle Beziehungen zwischen Geschwistern weder von der Rechtsordnung noch von der Gesellschaft als Ganzes akzeptiert werden. Umgekehrt gibt es keinen hinreichenden empirischen Beleg für Annahme eines allgemeinen Trends zur Entkriminalisierung solcher Beziehungen. Der Gerichtshof ist darüber hinaus der Auffassung, dass der vorliegende Fall eine Frage moralischer Maßstäbe betrifft. Aus den oben genannten Grundsätzen ergibt sich, dass die innerstaatlichen Behörden im Hinblick auf die Entscheidung, wie sie mit einvernehmlichen inzestuösen Beziehungen zwischen Erwachsenen umgehen, einen weiten Beurteilungsspielraum genießen, obwohl diese Entscheidung einen intimen Aspekt des Privatlebens einer Person betrifft. […] Unter besonderer Berücksichtigung der oben angeführten Erwägungen und der sorgfältigen Herangehensweise des Bundesverfassungsgerichts an die vorliegende Rechtssache, […] kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass die innerstaatlichen Gerichte ihren Beurteilungsspielraum nicht überschritten, als sie den Beschwerdeführer wegen Inzests verurteilten. (EMGR 2012)

Der Deutsche Ethikrat nahm diese Entscheidungen zum Anlass für eine gründliche thematische Beschäftigung, auf die auch seine umfassende Stellungnahme hinweist. Aus der Analyse heraus rät das Gremium in seiner Stellungnahme der Legislative zu Änderungen, die vornehmlich auf Geschwister abzielen, die nicht miteinander aufwachsen oder aufgewachsen sind. Zwar sieht das Mehrheitsvotum das „Schutzgut des § 173 StGB […] [,] die Familie“ im Fall geschwisterlicher sexueller Beziehungen selbst bei Volljährigkeit der Partner noch immer tangiert, gewichtet aber hierbei das „bedeutsame, persönlichkeitskonstitutive Grundrecht der bereits erwachsenen Geschwister auf sexuelle Selbstbestimmung“ (Deutscher Ethikrat 2014: 74, 75) schwerer. Der Ethikrat empfiehlt daher: „Die Bestrafung des einvernehmlichen Beischlafs unter erwachsenen (über 18 Jahre alten) Geschwistern sollte entfallen.“ (Ebd.: 75) Eine Aufhebung der Strafbarkeit empfiehlt der Ethikrat auch für den Fall, dass eines der Geschwister über 14, aber unter 18 Jahre alt ist, sofern „die Geschwister nicht beziehungsweise hinreichend lange nicht mehr in einem Familienverbund zusammenleben und die künftige Wiederherstellung eines solchen Verbundes nach objektivem Ermessen nicht zu erwarten ist“ . (Ebd.; Hervorhebung d. V.)

An anderer Stelle fordert der Ethikrat hingegen die Aufrechterhaltung und Ausweitung der Strafbarkeit sexueller Handlungen: Die „den erwachsenen Partner beim einvernehmlichen Beischlaf unter Geschwistern treffende Strafbarkeit [sollte] aufrechterhalten bleiben, wenn der andere Partner unter 18 Jahren ist und die Geschwister in einem Familienverbund tatsächlich zusammenleben. Die Strafbarkeit sollte in diesen Fällen nicht nur den Beischlaf, sondern auch andere sexuelle Handlungen von erheblichem Gewicht erfassen.“ (Ebd.: 75f; Hervorhebungen d. V.)

Der Deutsche Ethikrat begründet die Empfehlung grundsätzlicher Aufhebung der Strafbarkeit über 18 Jahre für Inzest zwischen Geschwistern damit, dass er das Schutzgut „Familie“ und „innerfamiliäre Rollen der Mitglieder“ geringer einschätzt als das Grundrecht Erwachsener auf sexuelle Selbstbestimmung. Mehr noch, er fragt nach der Eignung von Strafandrohung und Strafverfolgung zum Zwecke des Schutzes gesellschaftlicher Normen:

Das Strafrecht hat nicht die Aufgabe, für den Geschlechtsverkehr mündiger Bürger moralische Standards oder Grenzen durchzusetzen. Es hat den Einzelnen vor Schädigungen und groben Belästigungen und die Sozialordnung der Gemeinschaft vor Störungen zu schützen. Nicht zu seinen Aufgaben gehört es aber, das „Normalempfinden“ selbst großer Mehrheiten vor jeder noch so moderaten Zumutung zu bewahren, wie man sie in der Wahrnehmung finden mag, dass die eigenen Maßstäbe sexueller Normalität nicht von allen anderen geteilt werden. (Ebd.: 74)

Der Ethikrat fügt jedoch ebenfalls an, dass er sich an dieser Stelle ausschließlich mit dem Geschwisterinzest befasse, dass also Regelungen für Beischlaf-Handlungen auf- und absteigender Verwandtschaftslinien nicht betroffen seien. Im Fall, dass Geschwister nicht in einem gemeinsamen Familienverband lebten und dieser auch als nicht wiederherstellbar erscheint, sieht der Ethikrat keine negativen Auswirkungen für das Schutzgut „Familie“ und die „innerfamiliäre Ordnung“. Dieses Gut sieht er hingegen dann gefährdet, „wenn eines der Geschwister noch nicht 18 Jahre alt ist und beide noch zusammenleben“. (Ebd.: 77) Nicht nur Beischlaf könnte hier den Familienverbund gefährden, sondern auch sonstige „sexuelle Handlungen von erheblichem Gewicht“ (ebd.), worunter der Ethikrat offenbar insbesondere Analverkehr und möglicherweise anhaltende gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen versteht (ebd.: 73).

 

Einordnung und Ableitungen

Sowohl die Begründungen der beiden höchstrichterlichen Instanzen als auch die stark daran orientierten Empfehlungen des Deutschen Ethikrates setzen die Argumentationsfiguren Familie, Familienverbund und -gefüge und ihre Schutzwürdigkeit in ihren Ausführungen zentral.

Für den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof gilt das selbstverständlich nur bedingt, weil dieser die Rechtssache vor allem hinsichtlich korrekten Zustandekommens der gesetzlichen Regelung und einer Verletzung grundlegender Rechte durch die nationale Rechtsprechung in den Blick nimmt. Dennoch vertritt der Gerichtshof in Straßburg die Auffassung, dass etwa eine Gefährdung „der Moral“ unter bestimmten Umständen – etwa dem Fehlen eines erkennbaren internationalen Entkriminalisierungstrends bezogen auf die zur Debatte stehenden Handlungen – ein relevantes Kriterium für den staatlichen Eingriff selbst in das intime Privatleben darstelle. Es herrsche Einigkeit darüber, „dass der vorliegende Fall eine Frage moralischer Maßstäbe betrifft“ (EGMR).

Beim Bundesverfassungsgericht und dem Ethikrat wird der Fokus deutlicher: Es geht bei der Debatte um den § 173 StGB zuvörderst um den Familienverbund und die Vermeidung der Zeugung genetisch belasteter Nachkommen sowie um die Aufrechterhaltung eines gesellschaftlich existierenden Tabus vom Inzest bzw. der sozialen und psychologischen Funktionen dieses Tabus. Bedacht und diskutiert werden damit vordergründig nicht Fragen von Macht und Hierarchie, die zentral in den §§ 174 und 176 des StGB erfasst sind. Es geht nicht darum, dass eine Person in der Familie auf Grund ihrer Position sexuelle Handlungen gegenüber Abhängigen durchsetzen könnte. Stattdessen geht es um die Stabilisierung gesellschaftlicher Funktionszusammenhänge mittels der Institution Familie. Verstanden als real existierender Lebenszusammenhang verkörpert Familie demnach nicht weniger als das „Grundelement der gesellschaftlichen Struktur“ (Deutscher Ethikrat 2014: 38). Nur zu verständlich, dass jedem Familienangehörigen (allein aufgrund seiner Familienangehörigkeit) von daher die moralische Verpflichtung erwächst, die „inneren familiären Beziehungen nicht auf eine solche Weise zu stören, die die gesellschaftliche Funktionstüchtigkeit der Familie beeinträchtigt oder sogar gefährdet“. (Ebd.) Zwangsläufig unberücksichtigt bleiben bei einem solch dezidiert funktionalistischen Zugang zur Institution Familie u. a. innerfamiliäre Konstellationen und Dynamiken, doch vor allem bleibt die Argumentation mit einer gesellschaftsstabilisierenden Funktion der Familie den Beweis schuldig, dass es sich bei Familie und Ehe nicht nur um schützenswerte, sondern auch um schützende Institutionen handelt. Der 2002 bis 2004 durchgeführten Erhebung von Ursula Müller und Monika Schröttle im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zufolge hat jede vierte Frau im Alter von 16–85 Jahren im Verlauf ihres Lebens mindestens einmal körperliche und/oder sexuelle Übergriffe durch einen Beziehungspartner erlebt. (Vgl. Müller/Schröttle 2004) Auch im Hinblick auf den Kinderschutz hat das Aufwachsen und Leben in „klassisch“ familiären Strukturen keinen besseren Leumund; die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) des Jahres 2013 beziffert die Zahl der Kinder unter den Opfern von (vollendetem wie versuchtem) Mord und Totschlag bei 5,2% und von Körperverletzung bei 6,4%. Die Zahl der gegen Kinder verübten Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung unter Gewaltanwendung oder Ausnutzen eines Abhängigkeitsverhältnisses lag bei 4,4 %. (Vgl. PKS in Deutscher Kinderschutzbund 2013: 11) Möglicherweise stellt die Rechtsprechung ebenso wie der Deutsche Ethikrat nicht zuletzt aufgrund solcher (gefährdenden) real existierenden familiären Lebenswelten wiederholt auf die Betonung der Familie als abstraktes Schutzgut ab. Auch ohne exakte Ausformulierung wird so das Ideal eines bürgerlichen Familienmodells gedacht, in dem Mann und Frau, am besten verheiratet, auf Dauer zusammenleben und gemeinsame Kinder zeugen und großziehen. In nicht unbeträchtlichem Maße wird hierbei ein erbbiologisches Bild der „schützenswerten“ Familie gezeichnet – der Familienverband einer Familie mit nicht leiblichen Kindern, Familien mit adoptierten Kindern bzw. Pflegschaften etwa erscheinen als weniger schützenswert. Es wird zwischen „echten“ (blutsverwandten) und „unechten“ Geschwistern unterschieden und eine unterschiedliche Behandlung vom Gesetzgeber betrieben und von der Rechtsprechung gerechtfertigt. Ein solches Vorgehen erinnert an Regelungen in der Bundesrepublik der 1960er Jahre, als uneheliche Kinder in ihren Rechten ehelichen Kindern nicht gleichgestellt waren.

Der erbbiologische Aspekt wird durchweg in der Urteilsbegründung des Bundesverfassungsgerichts deutlich. Es weist hier vielfach darauf hin, dass eine unterschiedliche Behandlung von leiblichen Geschwistern und etwa Adoptivgeschwistern durch den Gesetzgeber zu rechtfertigen sei, weil bei Letzteren keine „erbbiologischen Bedenken“ vorlägen. Gleiches gelte für die unterschiedliche Behandlung des Beischlafs gegenüber anderen sexuellen Praktiken. Gegen diese Art der Begründung veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik direkt nach Erscheinen des Gerichtsurteils eine Stellungnahme. Unter dem Titel „Eugenische Argumentation im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Inzestverbot“ erläuterte sie, dass der Bezug auf Erbkrankheiten in der Rechtsprechung nicht statthaft sei. „Das Argument, es müsse in Partnerschaften, deren Kinder ein erhöhtes Risiko für rezessiv erbliche Krankheiten haben, einer Fortpflanzung entgegengewirkt werden, ist ein Angriff auf die reproduktive Freiheit aller.“ Auch mit Blick auf die deutsche Vergangenheit empfiehlt die Gesellschaft, „auf der Ebene der höchstrichterlichen Rechtsprechung auf eugenische Begriffe und Argumentationen zu verzichten. Diese sind sachlich falsch und leisten darüber hinaus der Diskriminierung von Menschen und Familien Vorschub, die ohnehin ein schweres Schicksal haben.“ (Dt. Gesellschaft für Humangenetik 2008)

Auch der Deutsche Ethikrat stellt verschiedene erbbiologische Argumentationen gegeneinander und schließt sich letztlich der Sichtweise an, dass „eine allgemeine Verurteilung sämtlicher inzestuöser Handlungen allein mit Gen-Argumenten schon aus logischen Gründen nicht haltbar“ wäre. (Deutscher Ethikrat 2014: 36) Nichtsdestotrotz liegen letztlich sowohl eine erbbiologische Argumentation als auch eine solche, die bestimmte Familienmodelle gegenüber anderen bevorzugt, der Stellungnahme des Deutschen Ethikrates zu Grunde. Anders ist nicht zu begründen, warum einerseits weiterhin eine Ungleichstellung von leiblichen Geschwistern und etwa Adoptivgeschwistern in der vorgeschlagenen Änderung vorgesehen ist. Andererseits wird grundlegend am §173 StGB festgehalten, der besondere Regelungen für den Beischlaf unter leiblichen Geschwistern vorsieht. Der sexuelle Umgang unter leiblichen Geschwistern wird entsprechend als einer besonderen Betrachtung für würdig befunden, während andere Geschwisterschaften dem Ethikrat offenbar ausreichend durch die bestehende Rechtslage gewürdigt erscheinen. Von daher stellt sich die Frage, weshalb der sexuelle Umgang unter leiblichen Geschwistern eine besondere Würdigung erfahren sollte. Durch die Argumentation mit der Aufrechterhaltung eines funktionierenden Familienverbandes würden andere Familienverbände – u. a. solche mit nicht nur biologisch verwandten Kindern – als weniger schützenswert dargestellt und diskriminiert. Ginge es hingegen gerade um die Frage biologischer Verwandtschaft, so würde durch die Hintertür an erbbiologischer Argumentation festgehalten werden.

Die besondere Rolle und Funktion sexueller Normierung wird in der Behandlung der Thematik durch die verschiedenen Gremien und Instanzen deutlich. So wird als wesentliches Argument, für einvernehmliche sexuelle Handlungen unter Geschwistern die Strafbarkeit beizubehalten, deren Bedeutung für die Aufrechterhaltung der Tabufunktion für die Gesellschaft aufgeführt. Diese Funktion wiederum korrespondiere mit der gesellschaftlichen Überzeugung der Strafwürdigkeit inzestuöser Handlungen. Eine zirkuläre „Argumentation“ ohne tatsächliche Argumente. Dass es allen Verwendern des Tabu-Arguments gleichwohl ernst ist mit demselben – darauf verweist unzweifelhaft die Sprachlosigkeit, die zur Sphäre des Tabus gehört. Seine Wirkmächtigkeit bezieht es aus dem Bann, mit dem Schändliches belegt wird. Die geltende Norm wird erneuert, der gültige Konsens gefestigt, Mitte und Ränder verbindlich positioniert. Das einzig Benennbare sind zu erwartende, zu befürchtende Folgen für die Tabubrecher: „Frigidität, Lernstörung, Verwahrlosung, Neigung zur Prostitution sowie schwerste Depressionen mit Selbstmordgefahr“. (Deutscher Ethikrat 2014: 31) Von diesen Rändern her wird ein Bild gesellschaftlicher Sexualitätsnormen und -normierungen deutlicher erkennbar als von der mittig gesetzten Familie und Ehe. Genau diese Mitte aber ist damit gemeint.

Bereits seit Jahrzehnten zeigt sich, dass Familienmodelle zunehmend vielfältiger werden. Die Scheidungsraten sind dauerhaft hoch – aktuell 36 % innerhalb von 25 Jahren (Statistisches Bundesamt 2014) –, das Zusammenleben über die gesamte Lebensspanne (oder einen langen Abschnitt) mit nur eine_r Partner_in ist mittlerweile zu einer Lebensweise neben anderen geworden. Mehr als 23 % der Kinder leben aktuell bei alleinerziehenden Müttern oder Vätern (Statistisches Bundesamt 2013a); mehr als 4000 Minderjährige werden jährlich adoptiert (Statistisches Bundesamt 2013b). Gesetzliche Veränderungen erkennen zunehmend die unterschiedlichen Lebensweisen an und vermindern Ungleichbehandlungen. Das gilt etwa für die aufgehobene Diskriminierung unehelicher gegenüber ehelichen Kindern. Nicht zuletzt aber finden auch die geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung zunehmende Anerkennung, wie in der aktuellen Überarbeitung des Transsexuellengesetzes, der Abschaffung des gegen gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen unter Männern gerichteten §175 StGB und der Einführung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft und ihrer allmählichen Gleichstellung mit der Ehe deutlich wird. Die gesellschaftlichen Veränderungen haben auch Auswirkungen auf die rechtliche Bewertung des Inzests und zu beachtender Schutzgüter. Der Rechtswissenschaftler Ulrich Sieber kommt auch im Hinblick auf die Veränderungen der Lebensverhältnisse in seinem vom Bundesverfassungsgericht angeforderten Gutachten zu folgendem Schluss: „Im Hinblick auf den – häufig genannten – Schutz der Familie als Institution ist fraglich, inwieweit ein solches überindividuelles Rechtsgut aufgrund der sozialen Veränderungen heute einen strafrechtliche[n] Schutz gegen die hier diskutierten Handlungen rechtfertigen kann, wie weit dieser strafrechtliche Schutz (zum Beispiel bei einvernehmlichen Sexualkontakten von 14- bis 18-jährigen Jugendlichen oder bei einvernehmlichen Sexualkontakten älterer Geschwister außerhalb einer klassischen Familie) erforderlich ist und inwieweit im konkreten Fall Inzest nicht die Ursache, sondern die Folge zerrütteter Familien ist (so dass statt auf den Schutz der Familie auf den Schutz des Individuums abgestellt werden sollte).“ (Sieber 2007: 83; Hervorhebung im Original)

Wenn auch in der leicht überwiegenden Zahl (28 von 44) der untersuchten Länder strafbar, so ist Inzest in zahlreichen Ländern straflos: Frankreich, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Portugal, Russland, Spanien, die Elfenbeinküste, die Türkei, China, Japan, Südkorea, Argentinien, Brasilien und weitere lateinamerikanische Staaten sehen keine Strafbestimmungen vor. Aus den internationalen Regelungen folgert die Forschungsgruppe des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht – geleitet von Ulrich Sieber, Hans-Jörg Albrecht und Konstanze Jarvers: „Die rechtsvergleichende Analyse zeigt damit, dass eine Gesellschaft auch ohne Inzeststrafbestimmung auskommen kann, die den einverständlichen Sexualverkehr zwischen Erwachsenen kriminalisiert. Entscheidend sind dagegen Strafnormen im Hinblick auf den Einsatz von Gewalt, das jugendliche Alter eines Beteiligten sowie das Ausnutzen eines besonderen Autoritäts-, Abhängigkeits- oder Vertrauensverhältnisses.“ (Sieber et al. 2014)

Bezogen auf Gewalt, Hierarchie und die Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen existieren in der Bundesrepublik mit den §174 und §176 StGB wirksame gesetzliche Regelungen. Vor dem Hintergrund

  1. der sich als problematisch erweisenden erbbiologischen Argumentation,
  2. der fraglichen und diskriminierenden Differenzierung in leibliche und andere Geschwister,
  3. der gesellschaftlichen Veränderungen, die zu einer Pluralisierung der Lebensweisen führen (und die Schutzwürdigkeit von nur einer Familienform in zunehmendem Maße hinfällig machen, auf jeden Fall in einer Weise, dass der staatliche Eingriff in die intime Privatsphäre, in die sexuelle Selbstbestimmung als mit einer solchen Schutzwürdigkeit nicht mehr begründbar erscheint) sowie
  4. sich international darstellender Alternativen, die dadurch deutlich werden, dass Inzest vielfach nicht geahndet wird (ohne zunehmende Inzidenz sogenannter Inzesthandlungen),

erweist sich der §173 StGB als unzeitgemäß und in problematischer Weise in Belange der sexuellen Selbstbestimmung eingreifend. Die aktuelle gesellschaftliche und politische Debatte sollte dazu führen, dass der §173 StGB ersatzlos gestrichen wird.

 

Literatur

Best, Gisela (2010): Zur Aktualisierung des Inzestverbots: Eine Erörterung anlässlich des Urteils des Bundesverfassungsgerichts. Berlin etc.: Lit-Verlag.

BVG (2008): Bundesverfassungsgerichts-Urteil, 2 BvR 392/07 vom 26.2.2008, Absatz-Nr. (1 - 128). Online: http://www.bverfg.de/entscheidungen/rs20080226_2bvr039207.html (Zugriff: 21.11.2014).

Deutscher Ethikrat (2014): Inzestverbot Stellungnahme. Online: http://www.ethikrat.org/dateien/pdf/stellungnahme-inzestverbot.pdf (Zugriff: 21.11.2014).

Deutscher Kinderschutzbund (2013): Gewalt gegen Kinder in Deutschland. Zusammenstellung von Daten aus der Polizeilichen Kriminalstatistik 2013 des Bundeskriminalamts Wiesbaden. Online: http://www.dksb.de/images/web/PDFs/PKS%202013%202014-06-23%20CLT.pdf (Zugriff: 21.11.2014).

EGMR (2012): Rechtssache S. ./. Deutschland (Individualbeschwerde Nr. 43547/08). Online: http://hudoc.echr.coe.int/sites/eng/pages/search.aspx?i=001-111961#{%22itemid%22:[%22001-111961%22]} (Zugriff: 21.11.2014).

Müller, Ursula; Schröttle, Monika (2004): Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland. Zusammenfassung zentraler Studienergebnisse. Im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Online: http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/Lebenssituation-Sicherheit-und-Gesundheit-von-Frauen-in-Deutschland,property=pdf,bereich=bmfsfj,sprache=de,rwb=true.pdf (Zugriff: 21.11.2014).

Sieber, Ulrich (2007): Rechtsvergleichender Teil. In: Albrecht, Hans-Jörg; Sieber, Ulrich: Stellungnahme zu dem Fragenkatalog des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren 2 BvR 392/07 zu § 173 Abs. 2 S. 2 StGB – Beischlaf zwischen Geschwistern. Online: https://www.mpicc.de/files/pdf1/05-08-inzest_gutachten1.pdf (Zugriff: 21.11.2014).

Sieber, Ulrich u.a. (2014): I. Inzeststrafbarkeit im internationalen Rechtsvergleich. Online: https://www.mpicc.de/de/forschung/forschungsarbeit/gemeinsame_projekte/inzest/inzeststrafbarkeit.html (Zugriff: 21.11.2014).

Statistisches Bundesamt (2013a): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit: Haushalte und Familien, Ergebnisse des Mikrozensus. Online: https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Thematisch/Bevoelkerung/HaushalteMikrozensus/HaushalteFamilien2010300137004.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff: 21.11.2014).

Statistisches Bundesamt (2013b): Statistiken der Kinder- und Jugendhilfe: Adoptionen.

Statistisches Bundesamt (2014): Ehescheidungen. Online: https://www.destatis.de/DE/ZahlenFakten/GesellschaftStaat/Bevoelkerung/Ehescheidungen/Ehescheidungen.html (Zugriff: 21.11.2014).

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