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Geradezu mystisch wird heute das Jahr 1968 aus sexueller Sicht gesehen. Mit ihm verbinden sich Gedanken zur sogenannten Sexuellen Revolution und insgesamt der Befreiung des sexuellen Tuns der Menschen von bürgerlichen Konventionen. In der BRD wird mit der Sexuellen Revolution auch ein Bruch mit den Nazi-Eltern verbunden.

Eine solche Beschreibung greift kurz und wird weder dem realen Streiten noch den damaligen gesellschaftlichen Veränderungen gerecht. Das beginnt schon bei der zeitlichen Einordnung: Bereits 1967 wurde die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gegründet und schon zuvor gab es sexualpädagogische Konzepte, die in einigen Bundesländern der BRD und gerade auch in Westberlin staatlich-organisatorisch entwickelt wurden [1]. Bereits die geschichtlichen Ereignisse des Jahres 1967 in Westberlin und dann in der ganzen BRD – mit den Protesten gegen den Schah-Besuch und denen im Anschluss an die Ermordung von Benno Ohnesorg durch einen Polizisten – sind bedeutsam. Und es ist die oftmals vernachlässigte Schülerbewegung (Schüler_innenbewegung) zu berücksichtigen, die gleichzeitig zur Studierendenbewegung stattfand, bereits 1967 stark war und sich im Juni zum „Aktionszentrum unabhängiger und sozialistischer Schüler“ (AUSS) zusammenschloss. Die Schüler_innenbewegung befasste sich rasch auch mit Fragen des Sexuellen – und brachte es in die Diskussion. Es wurde unter anderem eine emanzipatorische und die Sexualität bejahende Sexualpädagogik für Schulen gefordert. Auch wurde von den Schüler_innen gegen die Schutzaltergrenzen und die Bedrohung gleichgeschlechtlichen Sexes revoltiert. Sich vielmehr der Schülerbewegung (Schüler_innenbewegung) zuzuwenden, könnte gerade für Themen des Sexuellen einige Fragen erhellen – und die Schüler_innenbewegung hatte Reichweite: Etwa „Das kleine rote Schülerbuch“, das dann ab 1969 erschien, erreichte Auflagen im sechsstelligen Bereich.

Ebenfalls nicht zu vernachlässigen sind die Ost-West-Aushandlungen, die sich um die Proteste darstellen. Hier besteht einiger Forschungsbedarf, da bislang die Fragestellungen rund um „die 68er“ oftmals aus der einen oder anderen Perspektive zugespitzt wurden und gründliche wissenschaftliche Perspektiven, die West wie Ost gleichermaßen würdigen, kaum zu finden sind. In Bezug auf die sexuellen Fragen ist hier bedeutsam, dass bereits am 12. Januar 1968 die Volkskammer der DDR ein neues Strafrecht und Strafprozessrecht billigte. Galten in der DDR zum Beispiel niemals die Nazi-Verschärfungen des Paragrafen 175, der mann-männlichen Sex unter Strafe stellte und fanden dort in wesentlich geringerem Umfang als in der BRD und weitgehend „nur“ bis 1957 Verurteilungen von Männern wegen homosexueller Handlungen statt, so markiert das neue Strafrecht einen Einschnitt: Nun wurde eine Regelung eingeführt, die „lediglich“ eine unterschiedliche Schutzaltergrenze vorsah. Im neuen Paragrafen 151, der den Paragrafen 175 in der DDR ablöste, heißt es: „Ein Erwachsener, der mit einem Jugendlichen gleichen Geschlechts sexuelle Handlungen vornimmt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Verurteilung auf Bewährung bestraft.“ [2] Für gleichgeschlechtlichen Sex galt damit juristisch eine Schutzaltergrenze von 18 Jahren; für andersgeschlechtlichen Sex galt hingegen eine von 16 Jahren. Gewiss problematisch, aber dennoch auch als Akt der „Anerkennung/(An-)Erkennung“ weiblicher Sexualität zu verstehen [3], galt der Paragraf 151 nun „gleichberechtigt“ sowohl für mann-männlichen als auch für frau-weiblichen Sex. Bedeutsam wären für eine genaue Einordnung der „Sexuellen Revolution“ und der sich ergebenden gesellschaftlichen sexuellen Verhältnisse ausführliche Betrachtungen zum Werdegang dieses Strafgesetzes – und seine Bedeutung für Debatten in Westberlin und der BRD. (Dass es ganz deutliche wechselseitige Beeinflussungen von Ost und West gab, ist bekannt und wird etwa aus der Rezeption von Maxi Wanders Buch „Guten Morgen, du Schöne“ und von Verena Stefans und Christa Wolfs Interaktionen deutlich [4].)

Schließlich soll hier noch ein dritter Aspekt thematisiert werden: „Sexualität“ als Konzept ist historisch nicht überzeitlich, sondern neu. Es kommt erst mit der „modernen“, der bürgerlichen Gesellschaftsordnung auf. Auch vorher hatten Menschen geschlechtliche Handlungen, die wir heute als sexuell verstehen – aber diese folgten anderen Prämissen. So kommt neu mit dem Konzept der „Sexualität“ auf, dass sehr „nahe“ und „zärtliche“ Handlungen mit ihrem Gegenteil – sexualisierter Gewalt – zusammenfasst als „sexuell“ bezeichnet werden [5], anstatt Intimität und Nähe auf der einen Seite zu sehen und Gewalt und Vergewaltigung ganz anders zu definieren. Auch sind erst seit der Moderne die intimen Handlungen starr von Freundschaft abgrenzt; und auch erst seitdem gibt es die starren binären Kategorien „Heterosexualität“, Homosexualität“ und „Bisexualität“. Dafür dass ein solches Verständnis und ein solches Konzept von „Sexualität“ erst mit der bürgerlichen Gesellschaftsordnung aufkommen, liegen Analysen vor: mit meiner Beteiligung sind das insbesondere das Buch „Queer und (Anti-)Kapitalismus“, das Salih Alexander Wolter und ich gemeinsam verfasst haben, und – spezifisch für „Homosexualität“ – das Buch „Biologie & Homosexualität“ und vertiefend das Buch „Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität: Kritische Perspektiven“ (gem. mit Zülfukar Çetin). Auch an die Erkenntnisse zur Entwicklung und Etablierung des „Sexualitäts-“Konzeptes anschließend, lohnt es sich weiterzudenken. Damit ließe sich auch der Frage nachgehen, unter welchen Bedingungen normative Setzungen so grundlegend in Frage gestellt werden könnten, sodass von einer „Sexuellen Revolution“ gesprochen werden kann.

 

[1] Vgl. für einen Überblick: Christin Sager, „Das aufgeklärte Kind: Zur Geschichte der bundesrepublikanischen Sexualaufklärung (1950-2010)“ (Bielefeld: 2015).

[2] Siehe etwa: http://www.verfassungen.de/de/ddr/strafgesetzbuch68.htm (Zugriff: 4.1.2018).

[3] Vgl. zur Begriffsverwendung von „Anerkennung“ die differenzierten Ausführungen im von Zülfukar Çetin und mir veröffentlichten Band „Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität: Kritische Perspektiven“ (Gießen: 2016). Dort legen wir dar, dass im Begriff „Anerkennung“ positive Aspekte (juristische Gleichstellung) und negative Aspekte (staatliche Verfolgung) zusammenfließen.

[4] Vgl. etwa zur Bezugnahme der – leider kürzlich verstorbenen – Verena Stefan auf Christa Wolf das TAZ-Interview mit Verena Stefan „Ich bin keine Frau. Punkt.“ Vom 10. Mai 2008. Online: http://www.taz.de/!5182326/ (Zugriff: 4.1.2018).

[5] Siehe: Thomas Bauer, „Die Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islams“ (Berlin: 2011, hier: S. 271-277).