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Der neue Einführungsband von Heinz-Jürgen Voß "Einführung in Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung: Basisbuch für Studium und Weiterbildung" liefert einen aktuellen, zeitgemäßen Überblick.

Sexualpädagogik muss in Teilen neu gedacht werden. So ist der Anteil, der Helmut Kentler zugeschrieben wird, deutlich überbewertet. Vielmehr hat Kentler selbst daran gearbeitet, dass sein Anteil an den Entwicklungen möglichst groß erscheint - und sogar ausgeführt, dass sich die "Schülerbewegung" in den 1960er Jahren bei ihm "Absolution" für ihre Aufrufe zu einer zeitgemäßen Sexualerziehung geholt hätte...

Es lohnt sich, genau auf die Entwicklungen zu sehen. Auch darauf, wie Denkweisen der "Geschlechterwandlung und -mischung" in den Traditionen der Sexualpädagogik ausgelöscht wurden und auch nach 1945 nicht wieder aufgegriffen wurden - weder in der BRD und Westberlin, noch in der DDR. Geschlechtliche und sexuelle Entwicklung, die Selbstbestimmung akzeptiert und gewährleistet und Grenzen achtet, wäre schon eher möglich gewesen - doch erst mit den aktuellen Entwicklungen kommen wir hier an.

Heute stehen die Förderung von geschlechtlicher und sexueller Selbstbestimmung im Vordergrund - entsprechende sexualpädagogische Konzepte werden, in Verbindung mit Schutzkonzepten, vorangebracht. Zugleich gibt es zunehmend Angebote für Erwachsene, gelingende Sexualität im Blick zu behalten, am eigenen sexuellen Wohlergehen, aber auch an Sexualproblemen zu arbeiten.

Der neue Einführungsband von Heinz-Jürgen Voß "Einführung in Sexualpädagogik und Sexuelle Bildung: Basisbuch für Studium und Weiterbildung" liefert einen aktuellen, zeitgemäßen Überblick. In der Ankündigung heißt es: "

Sexualität will gelernt sein. Die Wichtigkeit von Sexualpädagogik für Kinder und Jugendliche und von Sexueller Bildung für alle Altersgruppen ist heute gesellschaftlich anerkannt. Internationalen Übereinkünften gemäß zielen entsprechende Bildungsangebote auf die Förderung von Selbstbestimmung. Zugleich tragen sie Erkenntnissen zur Prävention von sexualisierter Gewalt sowie zur Anerkennung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt Rechnung.
Sexualpädagogik professionell zu vermitteln, muss ebenfalls gelernt werden. Neben Fertigkeiten und Haltung geht es um Wissen. Diese Einführung bietet eine zielgruppenübergreifende kompakte Übersicht. Sie bündelt das theoretische Wissen - Definitionen, rechtliche und psychosexuelle Grundlagen sowie Informationen zur bewegten sexualpädagogischen Geschichte - und präsentiert sie für den praxisorientierten gezielten Zugriff.

Ausführliche Informationen zum Buch und eine Leseprobe finden sich hier.

Moskau: Veranstaltung „Männer: Gesundheit und Sexualität“ („Здоровье и сексуальность мужчины“)

Moskau ist eine Reise wert! Das gilt nicht nur im Hinblick auf die Sehenswürdigkeiten, die gerade in besonderer Weise festlich beleuchtet sind und in Bezug auf Street-Art-Kunst, die man bei genauer Suche in der Stadt hier und da entdecken kann. Auch die wissenschaftliche Diskussion lohnt, wie ich gerade selbst erfahren durfte.

Der "Rote Platz" mit Kreml, Kaufhaus "Gum" und einer weihnachtlichen Eisbahn

Im Rahmen der vom Goethe-Institut und Kooperationspartner*innen organisierten und insgesamt sehr gut besuchten Veranstaltungsreihe „Mann sein“ („Быть мужчиной“) hatte ich am 5. Dezember 2019 Gelegenheit zur Veranstaltung „Männer: Gesundheit und Sexualität“ („Здоровье и сексуальность мужчины“) beizutragen und mit dem Wissenschaftler und praktisch tätigen Psychologen Dr. Dmitri Stebakow ins Gespräch zu kommen. In seinem Vortrag „Männer im Wartezimmer des Psychologen“ erläuterte Strebakow, wie sich aktuell die gesellschaftlichen Anforderungen an Männer in Russland verändern. Während es für Frauen als legitimer erscheine, bei Stress und besonderen Herausforderungen auch psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, sei der Besuch bei einem/einer Psychologen/Psychologin noch stigmatisiert. Das gelte insbesondere im ländlichen Raum, aber auch noch in Großstädten, wie Moskau.

Street-Art in der Nähe der Metro-Station "Ба́бушкинская"

Bereits zuvor durfte ich mit einem Vortrag „Zur Pluralisierung von Männlichkeiten im Kontext sexueller Gesundheit“ eröffnen und dabei ausgehend von der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Einblicke in die aktuelle Heterogenität im Hinblick auf Männlichkeiten geben.

WHO (2011): „[Sexuelle Gesundheit] ist ein Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen. Sexuelle Gesundheit setzt eine positive und respektvolle Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehungen voraus sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, und zwar frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt.“

Dabei konnte ich auch auf Ergebnisse der PARTNER-Studien zurückgreifen, die seit den 1970er Jahren regelmäßig die Jugendsexualität in Ostdeutschland (zunächst noch DDR) erheben – und deren PARTNER-III-Studie (1990) auch Vergleichsdaten zwischen DDR, BRD und Sowjetunion (wir sprechen von 1989/90) liefert. Etwa in Bezug auf „Kinder als Lebenswert“ und „Arbeit als Lebenswert“ ergeben sich interessante Vergleichsdaten, ebenso gilt das für die sexuelle Zufriedenheit (siehe die Foliensätze S.27-34: Deutsch / Russisch). Davon ausgehend ließ sich mit den 2013 publizierten Ergebnissen der PARTNER-4-Studie die Pluralisierung von Lebensweisen nachweisen, wenn auch hier ohne russische Vergleichsdaten. Daran schloss ich im Vortrag Fragen zur Verbesserung der Situation von LGBTI in Deutschland an.

Das Podium bei der Veranstaltung "Männer: gesundheit und Sexualität" des Goethe-Instituts in Moskau

Anschließend ergab sich eine gute Diskussion, in die sich auch zahlreiche der insgesamt 150 Teilnehmenden einbrachten. Dabei ging es um die Verbesserung der psychologischen Beratung für Männer, ob und wie auch cis Frauen als Täterinnen im Hinblick auf sexualisierte Gewalt in Deutschland im Blick seien und ob Sexualität sich stets klar als Identität ausprägen müsse. Schließlich wurde thematisiert, dass Konversionstherapien im Hinblick auf Homosexualität schädlich seien – und in Deutschland derzeit zurecht bei Minderjährigen verboten würden – und wie wichtig Sexualpädagogik / Sexuelle Bildung in der Schule ist, um Selbstbestimmung zu ermöglichen und Übergriffe zu verhindern (oder zu verringern). Moderiert wurde die Diskussion gewandt von Maxim Semeljak, dem Chefredakteur der Zeitschrift „Men’s Health“.

Die Veranstaltung war eine gute Erfahrung und weckt Lust, die aktuell laufende PARTNER-5-Studie auch durch eine Vergleichsstudie zu Russland zu ergänzen. Vielleicht ergibt sich – jetzt oder auch später – eine entsprechende Kooperation!

Heinz-Jürgen Voß

von Heinz-Jürgen Voß, zuerst veröffentlicht in Rosige Zeiten (Heft 150, S.28/29)

Schon vor den Weltkriegen wurde in deutschen Medien ein Bild Russlands als ‚aggressiv‘, ‚barbarisch‘, ‚unzivilisiert‘ und ‚unerschlossen‘ gezeichnet. In entsprechende Beschreibungen und Karikaturen waren ebenso antisemitische Stereotype und seit der Oktoberrevolution auch ‚Warnungen vor den Bolschewisten‘ eingeflochten. Das nationalistische und völkische Deutschland wollte seine Vormachtstellung in Europa und in der Welt behaupten. Vor diesem Hintergrund, der mit den Weltkriegen folgenden Geschichte, dem Rassenwahn, der Ermordung von Millionen von Menschen durch die Deutschen, erstaunt es schon sehr, wenn man heute in Texten und Abbildungen wieder auf das Bild Russlands als eines zu zivilisierenden Nachbarn stößt.

Damals wie heute beteiligen sich an diesen Zuschreibungen auch Männer, die auf Männer stehen. In den 1920er Jahren etwa bediente Adolf Brand in der schwulen Zeitschrift Der Eigene unverhohlen nationalistische Klischees und wandte sich gegen die ‚Weimarer Toleranz‘. Lieber als das von Magnus Hirschfeld gezeichnete Bild geschlechtlicher Zwischenstufen war ihm der ‚kernige‘, ‚arische‘ Mann. Heute sind es ebenso vielfach deutsche Schwule, die die plumpesten und dümmsten Vorurteile über Russland schüren – und dabei ebenso insbesondere deutsche Interessen verfolgen.

Denn würde es in den aktuellen Auseinandersetzungen um die Interessen russischer Schwuler und Lesben gehen, dann müssten einige Grundfesten gesetzt sein: Es wäre dann klar, dass sie den Ton und die Richtung des Streitens angeben müssten. Gesetze in Russland gegen Lesben und Schwule und dortige rechtsradikale Übergriffe treffen schließlich sie. Sie sind in Gefahr, während Vertreter des deutschen schwulen Establishments, die am Berliner Potsdamer Platz medienwirksam Fackeln anzünden, keinerlei Gefahr ausgesetzt sind, sondern nach der Aktion sich zu Hause auf ihr Sofa setzen. Letztere beteiligen sich mit solch plakativen Aktionen nur an der deutschen Großerzählung, dass Deutschland emanzipatorisch geworden sei und lenken ab von den rechtsradikalen Übergriffen in Deutschland und auch von den rassistischen und transphoben Übergriffen in der schwulen Szene selbst. Bei der „No Compact!“-Konferenz in Leipzig drückte es ein Vertreter russischer lesbisch-schwuler Selbstorganisationen deutlich aus: „Das Beste was ihr tun könnt, macht eure eigenen Hausaufgaben.“

Also: Russische Lesben und Schwule müssen die Richtung des Streitens angeben. Eine Unterstützung aus Deutschland muss sich davor hüten, dominant zu werden. Gleichzeitig gilt es, die postkolonialen Kritiken unter anderem von Gayatri Chakravorty Spivak zu verstehen: Sie macht an verschiedenen Beispielen deutlich, wie durch westliches Einmischen und westliche Zuschreibungen die Menschen, die eigentlich von bestimmten Restriktionen und Gewalt betroffen sind, zum Schweigen gebracht werden. Gerade durch das westliche Selbstverständnis eigener ‚Zivilisiertheit‘ und die entsprechenden Interventionen mit erhobenem Zeigefinger (wenn nicht gleich mit Panzern), und auch vor dem Hintergrund von Kolonialismus und Kriegen, bestärken diese Interventionen konservative Sichtweisen. In Russland wird die Berechtigung von Spivaks kritischer Sicht deutlich: Präsident Wladimir Putin setzte das Gesetz gegen die öffentliche Werbung für Homosexualität insbesondere mit solcher Argumentation durch, dass man sich vom Westen nichts vorschreiben lassen wolle und es gar nicht um die Interessen von Russ_innen gehe, sondern um solche – wie er sich ausdrückte – ‚westlicher Agenten‘. Hier sucht und findet er den Schulterschluss mit konservativen und nationalistischen Kräften in Russland.

In diesem Sinne trägt die Thematisierung und Instrumentalisierung von Homosexualität in Russland aber einen ähnlichen Charakter, wie man es auch andernorts feststellen kann. Es wird von inneren ökonomischen Schwierigkeiten (viele Menschen sind arm) abgelenkt und eine nationale Idee propagiert. Es ist interessant, wie die Thematisierung von Homosexualität auffällig oft parallel zu weitreichenden politischen Entscheidungen in Ländern geschieht. So wurde in Frankreich im vergangenen Jahr der Kriegseinsatz in Mali durchgesetzt, was aber in der öffentlichen Wahrnehmung unterging, weil alle sich über die Öffnung der Ehe und das Adoptionsrecht für Homosexuelle stritten. In Deutschland war es Ende der 1990er / Anfang der 2000er Jahre ebenso: Während intensiv über das neue Sondergesetz für Lesben und Schwule, die ‚Homo-Ehe‘, diskutiert wurde, konnte die Neubestimmung Deutschlands als militärische Weltmacht – unter anderem mit dem Krieg gegen Afghanistan – durchgesetzt werden.

Warum lassen sich Schwule so für nationale deutsche Interessen instrumentalisieren, wo es doch seit den Anfängen der so genannten Schwulenbewegung darum ging, sich gegen Herrschaft und Unterdrückung, gegen den repressiven deutschen Staat aufzulehnen? Ein Umdenken ist erforderlich. Konkret bedeutet dies für die Unterstützung russischer Lesben und Schwuler:

- Russische Lesben und Schwule müssen die Richtung und die Aktionsformen angeben; Deutsche müssen stets die eigene Position reflektieren und im Blick haben, wann eine Unterstützung umschlägt und nur noch der eigenen Selbsterhöhung dient.

- Medienbeiträge in Deutschland helfen erst einmal russischen Lesben und Schwulen nicht – sie dienen eben im Wesentlichen einer Selbsterhöhung der Deutschen (‚ach, wir sind ja so emanzipatorisch…‘). Wenn berichtet werden soll, ist stets der postkoloniale Hintergrund zu beleuchten und sollten Interviews (offen, nicht gerichtet) mit Russ_innen erfolgen