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Wenn es ums Ganze gehen soll, braucht es einen erneuerten Klassenbegriff. Der wird ohne Marx nicht zu haben sein und zugleich über ihn hinausgehen müssen – rassismuskritisch, antisexistisch, verqueert.

Gern greife ich den folgenden Text wieder auf. Er ist zuerst erschienen und zitierbar als: Wolter, Salih Alexander / Voß, Heinz-Jürgen (2014): Nicht ohne Marx – und über ihn hinaus. Malmoe, 66 (2014): S. 21.

Die ‹Klasse› – einst der Kernbegriff revolutionärer Theorie und Politik – wird in linken Ansätzen, die aktuell im deutschen Sprachraum diskutiert werden, oft nur noch mit durchgeschleppt. In der kulturwissenschaftlichen Wende der 1970er / 1980er Jahre wurde sie schon beinahe für tot erklärt. Dass sie sich dennoch ins intersektionale Paradigma hinüberretten konnte, verdankt sie – kleine Ironie der Geschichte – der Borniertheit hiesiger Universitäten. Die lernten das neue Konzept nämlich lieber aus den Büchern nordamerikanischer Professorinnen, als es sich von den marginalisierten Frauen – oft Migrantinnen aus der Arbeiterklasse – erklären zu lassen, die es in ihren Kämpfen hierzulande zeitgleich mit jenen entwickelt hatten. Nun haben es die deutschen und österreichischen Akademien also auch mit der Triade von Gender, Race, and Class zu tun, wissen aber mit der dritten dieser ‹Hauptkategorien sozialer Ungleichheit› nicht viel anzufangen, weil sie – anders als die Vordenkerinnen aus den USA – vor marxistischen Analysen zurückschrecken.

Offenbar aus dem gleichen Grund droht eine Linke, die sich auf die ‹Überwindung von Diskriminierung› beschränken will, deren Grundlagen aus den Augen zu verlieren. Denn die große Leistung des intersektionalen Ansatzes besteht gerade darin, scheinbar vorgegebene und unabänderliche Identitäten auf ineinandergreifende gesellschaftliche (Herrschafts-) Verhältnisse zurückzuführen. So werden Geschlecht und ‹Rasse› heute als ebenso wenig ‹natürlich› erkannt, wie es für die Klasse schon längst galt. Diese ergibt sich aus  dem Kapitalverhältnis, das  «Kapitalisten auf der einen Seite, Lohnarbeiter auf der andren» (MEW 23: 641) einander gegenüberstellt. Sicher genügt diese Formel nicht, eine komplexe Gegenwart zu fassen, in der z. B. einerseits auch millionenschwere Bankvorstände letztlich nur Angestellte sind, andererseits selbst noch prekarisierte Bewohner_innen der Metropolen von der Überausbeutung vor allem der Frauen im Globalen Süden profitieren.  Aber falsch und gefährlich ist es, wenn neuerdings unter dem Stichwort ‹Anti-Klassismus› die Klasse mitunter quasi ‹re-naturalisiert› wird.

Stattdessen gilt es, den Begriff sowohl analytisch zu füllen als auch mit der lebensweltlichen Erfahrung rückzukoppeln. Es gilt, das Zusammenspiel von Rassismus, Sexismus und Kapitalismus zu verstehen, mit dem Europa die Welt kolonisiert hat (Immanuel Wallerstein / Étienne Balibar), und zu erkennen, dass es heute eine hierarchische und ihrerseits globalisierte Strukturierung der Preise der Arbeitskraft gibt (Samir Amin, Gayatri Chakravorty Spivak). Und es gilt zu durchschauen, wie in unseren Gesellschaften ‹Diversity› funktioniert, indem unterschiedliche Bedürfnisse gegeneinander ausgespielt und soziale Unterschiede kulturalisiert werden. Wenn es ums Ganze gehen soll, braucht es einen erneuerten Klassenbegriff. Der wird ohne Marx nicht zu haben sein und zugleich über ihn hinausgehen müssen – rassismuskritisch, antisexistisch, verqueert.

Heinz-Jürgen Voß / Salih Alexander Wolter