Aktuell im Druck und ab Juli / August im Buchhandel erhältlich:
Intersexualität – Intersex: Eine Intervention
von Heinz-Jürgen Voß
Unrast-Verlag, Münster - Infos zum Buch
80 Seiten, broschiert, 7,80 EUR
ISBN 978-3-89771-119-8
Lektorat: Salih Alexander Wolter (Lieben Dank!)
Klappentext:
Oft werden bei der Diagnose «Intersex» im Säuglings- und frühen Kindesalter operative und hormonelle Eingriffe vorgenommen, um ein möglichst eindeutiges Erscheinungsbild der Genitalien zu erreichen. Von den Interessensvertretungen der Intersexe werden diese Eingriffe als gewaltsam und traumatisierend beschrieben. Neue wissenschaftliche Ergebnisse zeigen ebenfalls massive Probleme der Behandlungen auf – der Deutsche Ethikrat berücksichtigte sie nicht für seine Anfang 2012 veröffentlichte Stellungnahme zum Umgang mit Intersexualität. In diesem Band wird der aktuelle Forschungsstand vorgestellt und mit den Forderungen der Intersex-Verbände kontextualisiert. Voraus geht eine Analyse der gesellschaftlichen Umstände, die zur bisher üblichen medizinischen Praxis führten. Darin wird gezeigt dass die Ungleichbehandlung von Frauen und Männern sowie die sozial strukturierte Angst vor geschlechtlicher Pluralität wichtige Ausgangspunkte dafür waren, Uneindeutigkeiten gesellschaftlich und medizinisch zu tilgen. Vor dem Hintergrund einer wachsenden gesellschaftlichen Anerkennung vielfältiger geschlechtlicher Identitäten wird herausgearbeitet, dass die Begründung der bisherigen medizinischen Behandlungspraxis – sie basierte eben darauf, Menschen Diskriminierungen und Gewalt in einer gegenüber geschlechtlicher Uneindeutigkeit intoleranten Gesellschaft ersparen zu wollen – nicht mehr gegeben ist.
Prolog / Einleitung (mit freundlicher Genehmigung des Verlags):
„Etliche Betroffene sind aufgrund der früher erfolgten medizinischen Eingriffe so geschädigt, dass sie nicht in der Lage sind, einer normalen Erwerbstätigkeit nachzugehen, oder sie sind infolge der Eingriffe schwer behindert.“ (Deutscher Ethikrat 2012: S.165)
„Intersexualität – Überleben zwischen den Geschlechtern“ lautete im Sommer 2000 der Titel von Heft acht der GiGi – Zeitschrift für sexuelle Emanzipation. Um ein Überleben ging und geht es für die Intersexe in der aktuellen Gesellschaft tatsächlich. Bei ihnen treten weibliche und männliche Bestandteile des Genitaltraktes gemeinsam, also an ein und demselben Menschen, auf. Vom Überleben muss gesprochen werden, nicht etwa weil die körperliche Besonderheit lebens- oder gesundheitsbedrohlich wäre. Das ist sie nicht, und nur in wenigen Fällen liegen tatsächlich die Gesundheit bzw. das Leben bedrohende Begleiterscheinungen wie Salzverlust vor, die medizinisch behandelt werden müssen. Eine eindeutige Zuweisung zu weiblichem oder männlichem Geschlecht ist aber selbst dann medizinisch nicht notwendig. Dennoch wird sie, verbunden mit massiven chirurgischen und hormonellen Eingriffen, bei Intersexen weiterhin verbreitet im Säuglings- und frühen Kindesalter vorgenommen. Seit den 1990er Jahren gibt es gegen diese Praxis, die auf eine Angleichung an die gesellschaftliche Norm zielt, Widerstand der so behandelten Menschen. Sie beschreiben, dass und wie diese Behandlungen für sie gewaltvoll und traumatisierend waren. Vom Überleben von Intersexen muss also auf Grund zweigeschlechtlicher gesellschaftlicher Norm und der auf ihr basierenden medizinischen Interventionen gesprochen werden.
Ende Februar 2012 veröffentlichte der Deutsche Ethikrat – ein vom Deutschen Bundestag und der Bundesregierung eingesetztes Gremium – seine Stellungnahme „Intersexualität“. Darin kritisiert er die gesellschaftliche zweigeschlechtliche Normierung. Er empfiehlt der gesetzgebenden Gewalt, von der bisherigen Regelung zum Geschlechtseintrag im Personenstandsgesetz abzugehen, in der lediglich die Optionen „weiblich“ oder „männlich“ vorgesehen sind. Der Ethikrat plädiert dafür, eine dritte Option hinzuzufügen, die auf Intersexe angewendet werden könnte. Als Geschlecht könnte damit bei einem Kind „weiblich“, „männlich“ oder beispielsweise „anderes“ vermerkt werden. Damit nimmt der Ethikrat eines der Anliegen der Intersex-Bewegung auf, wenn auch ihre Forderungen in dieser Frage weitergehen. Eine zu schaffende dritte Kategorie müsse diskriminierungsfrei sein und für sich allein als eigenes Geschlecht bestehen können, so die Intersex-Verbände. Begriffe wie „anderes“ oder „dazwischen“, die über die gesellschaftlich dominanten Geschlechter „Mann“ und „Frau“ bestimmt werden, scheiden damit als Möglichkeiten aus. Stattdessen könnte die dritte Kategorie beispielsweise „Zwitter“ oder „Intersex“ lauten. Aus anderen Positionen zum Geschlechtseintrag wird dafür argumentiert, diesen als überflüssig zu erkennen und vollständig entfallen zu lassen.
Der zentralen Forderung der Intersex-Verbände nach dem Ende der chirurgischen und hormonellen medizinischen Eingriffe im frühen Kindesalter folgte der Ethikrat dagegen nicht. Zwar diskutierte auch er die unterschiedlichen Positionen in der Debatte. Auch beschrieb er das Leid und die Unzufriedenheit eines großen Teils der befragten Intersexe mit den Behandlungen. Zu einer grundsätzlichen Abkehr von den medizinisch nicht notwendigen Interventionen im frühen Kindesalter mochte er sich in seiner Empfehlung hingegen nicht durchringen. Auch bezog er die aktuellen internationalen wissenschaftlichen Erkenntnisse, die die medizinischen Behandlungen evaluierten (so genannte „Outcome-Studien“), in seine Stellungnahme nicht ein, sondern stützte sich lediglich auf zwei weiter zurückliegende deutschsprachige Arbeiten und eine kleinere eigene Online-Befragung. Aber auch diese Studien beschreiben Leid, Traumatisierungen und Behandlungsunzufriedenheit der behandelten Intersexe. Gleichzeitig blieb der Ethikrat einseitig bei einer medizinisch geprägten Terminologie und Darstellung von Intersex, die von den Intersex-Verbänden kritisiert wird. Die Verbände fordern, dass von der Darstellung von Intersex als Krankheit abgegangen und stattdessen von Varianzen und Besonderheiten des Geschlechts und der Geschlechtsentwicklung gesprochen werden solle. Für eine unparteiische Stellungnahme des Ethikrates wäre es notwendig gewesen, die vertretenen Positionen gleichberechtigt zu berücksichtigen.
Über diese Versäumnisse kann nicht hinweggegangen werden, weil dem Deutschen Ethikrat die Funktion eines Beratungsgremiums des Bundestages und der Bundesregierung zukommt. Demokratisch gewählte Abgeordnete verlassen sich, selbst meist nur unzureichend mit der Materie vertraut, oft auf die vermeintlich unabhängigen und gut informierten Stellungnahmen dieses Gremiums. Seine Veröffentlichungen erhalten damit ein erhebliches Gewicht in der Debatte. Die weitere Aushandlung in gesellschaftlichen Diskussionen wird erschwert, weil eine Stellungnahme des Ethikrates als gut begründet und allseitig informiert erscheint, quasi als „Schlusspunkt in der Debatte“.
Doch die Debatte wird weitergehen. Dieser Band soll dafür den Beitrag leisten, die Erkenntnisse aus neueren Studien zu den Ergebnissen der medizinischen Behandlungen von Intersex und der Zufriedenheit von Intersex-Personen einzubeziehen. Entsprechend werden die Studienergebnisse ausführlich dargestellt und – unüblich für die Reihe Unrast transparent – die Einzelstudien in einem Literaturverzeichnis aufgeführt.
Ein weiterer Punkt, der in diesem Band behandelt wird, ist nicht weniger wichtig, weil damit die gesellschaftliche Eingebundenheit der medizinischen Behandlungen klar wird. In vielen der aktuellen wissenschaftlichen Publikationen zu Intersex erscheint es so, als wäre die medizinische Behandlungspraxis, Geschlecht chirurgisch im Säuglings- oder frühen Kindesalter zu vereindeutigen, in den 1950er Jahren quasi „vom Himmel gefallen“. Das ist sie keineswegs, vielmehr ist sie ein weiteres Ergebnis gesellschaftlicher Geschlechterordnung, in der ein Zwang zu eindeutiger Geschlechtlichkeit „weiblich“ oder „männlich“ besteht. Daher wird in diesem Band die Genese der europäischen Geschlechterordnung mit ihrem Zwang zu geschlechtlicher Eindeutigkeit und Widerspruchsfreiheit nachgezeichnet. Es wird sich zeigen, dass der gesellschaftliche Rahmen auch die Forschungsfragen und die fortentwickelten Techniken der Medizin prägte und prägt. Das medizinische Einschneiden in den Körper sowie sein physisches und physiologisches Verändern erweisen sich damit als direkte Fortsetzung zweigeschlechtlicher gesellschaftlicher Norm.
Da sich aktuell zeigt, dass die strukturell verankerte Intoleranz gegenüber geschlechtlicher und sexueller Vielfalt abnimmt und vielfältige und individuelle geschlechtliche Identitäten gesellschaftlich anerkannt werden, zerfällt auch der Begründungszusammenhang für die geschlechtszuweisenden medizinischen Interventionen gegen Intersexe.
Bereits veröffentlicht: Making Sex Revisited und Geschlecht.