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rezensiert von Heinz-Jürgen Voß

„Queer Kids“ ist möglicherweise das Buch, das bislang fehlte: Hierin berichten 15 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene über ihr Erleben. Es sind queere Kinder und Jugendliche – trans*, schwul, lesbisch, bisexuell, geschlechtlich non-binär.

Kurz vor einem Seminar am Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapie in Zürich hatte ich das Buch „Queer Kids“ das erste Mal in der Hand. In den Gruppenarbeitsphasen in Zürich ergaben sich Gelegenheiten, darin zu stöbern. Allein mit ihren Geschichten überzeugen die Kinder und Jugendlichen. Im Grunde ist das Ergebnis: Erwachsene, nehmt euch weniger ernst – hört auf die Kinder und Jugendlichen. Sie sind viel weiter als wir!

Da ist Lia, die den Band eröffnet. Lia ist zehn Jahre alt – und schreibt besonnen und empowernd aus ihrer Biografie: „Als ich viereinhalb Jahre alt war, haben wir einen Kuchen gebacken und sind damit in den Kindergarten gegangen. Wir haben dann halt gesagt, dass ich jetzt Lia bin. Für die Kinder war das kein Ding, für sie war ich die ganze Zeit schon ein Mädchen. Weil ich vorher schon immer gesagt hatte, dass ich ein Mädchen bin und Lia heißen will.“ (S. 19f.) Lia ist ein trans* Mädchen. Sie geht ihren Weg – gegen Widerstände. Die Unterstützung der Eltern ist wichtig, musste aber auch erst einmal kommen. Und aus den Erläuterungen von Lia wird deutlich, welche Verantwortung Lehrer*innen haben: „Ich habe dreimal eine neue Lehrerin bekommen: in der ersten, dritten und fünften Klasse. Jedes Mal haben meine Eltern vorher mit der Lehrerin geredet und ihr gesagt, dass ich ein trans Mädchen bin. Dieses Jahr war ich bei dem Gespräch dabei. Nervös war ich nicht, denn die Lehrerinnen haben es alle super akzeptiert. Wenn jemand fies zu mir war, waren sie immer auf meiner Seite. Fragen haben sie schon gestellt, aber nie dumme Fragen. Sie fragten zum Beispiel, wie sie mir helfen könnten, wenn ich gemobbt würde und es mir deswegen schlecht geht.“ (S. 20)

Lia ist taff, wie die anderen Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in diesem Band. Und der Auftakt mit Lia macht exemplarisch deutlich, was sich gesellschaftlich bewegt hat. Wir sind heute an einem anderen Punkt als in den 1970er Jahren (wunderbar dargestellt in: https://www.queer.de/detail.php?article_id=53535), gleichwohl wissen Lehrkräfte noch immer zu wenig, obwohl die Schule DIE wichtige Bildungsinstanz ist (https://sebile.de/ergebnisse/). Lia und andere Kinder und Jugendliche erstreiten sich heute ihren Raum in der Schule. Sie sind sichtbar, erfahren Unterstützung – aber auch Gegenwehr. Die Abwehr kann verletzend sein und viel auslösen; sie findet schließlich in einer sehr sensiblen Lebensphase statt. -->weiter zur vollständigen Rezension bei Queer.de.

Das Buch "Post/pandemisches Leben" versucht eine theoretische Einordnung der Konsequenzen der Corona-Pandemie. Dabei sind individuellen Auswirkungen auf Menschen in ihren sozialen Netzwerken und politische Entscheidungen im Blick.

Sehr gern weise ich auf das - sehr lesenswerte - neue Buch von Yener Bayramoğlu und María do Mar Castro Varela "Post/pandemisches Leben. Eine neue Theorie der Fragilität" hin.

Knappe Beschreibung: Der Band versucht eine theoretische Einordnung der Konsequenzen der Corona-Pandemie. Dabei sind sowohl die individuellen Auswirkungen der Pandemie auf Menschen in ihren sozialen Netzwerken im Blick als auch politische Entscheidungen und ihre Folgen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und demokratische Prozesse. In Abgrenzung zu den Begriffen „Verletzlichkeit“ und „Vulnerabilität“ schlagen die Autor*innen vor, von „Fragilität“ zu sprechen, um allen Dimensionen der Wirkungen Rechnung zu tragen.

Knappe Anmerkungen: Die Reflexion muss - auf Basis der glänzenden Analyse - mehr Ebenen einbeziehen und eine Mutwilligkeit sowohl auf individueller Ebene als auch bei den Entscheidungsträger*innen nicht außer Acht lassen. Eine menschenrechtebasierte Ethik, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etabliert hat, wird in Deutschland nicht nur damit konfrontiert sein, welche Leben „betrauert werden“, sondern auch mit eugenischen Überlegungen. Das Motiv, dass sich „der Stärkere durchsetze“ war schon in den Argumentationen derjenigen, die sich – in besonderem Maß im Süden Deutschlands – auch den basalen Schutzmaßnahmen entzogen, äußerst präsent.

Ausführliche Beschreibung und Diskussion des Inhalts: Hier, auf dem (Rezensions-)Portal socialnet.

Buchvorstellung und Diskussion: Digital und analog am 22. April. Infos hier.

Der gebürtig Westberliner Salih Alexander Wolter rezensiert in den "Rosigen Zeiten" den eben erschienen Band "Westberlin - ein sexuelles Porträt", der an diesem Donnerstag (2.9.2021, 17:30 Uhr) in der Urania in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt wird.

Der gebürtige Westberliner Salih Alexander Wolter rezensiert in den "Rosigen Zeiten" den eben erschienen Band "Westberlin - ein sexuelles Porträt", der an diesem Donnerstag (2.9.2021, 17:30 Uhr) in der Urania in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Salih Alexander Wolter stellt heraus:

Das große Verdienst des Bandes ist es, diese Erzählung von [schwul-lesbischer] Emanzipation im umzäunten Soziotop mit zwei anderen zu flankieren und damit auch zu relativieren, die sich dort gleichzeitig abspielten – und alle drei überschnitten einander punktuell, wenn auch aus heutiger Sicht nicht genug, um gemeinsam gesellschaftsverändernd werden zu können. Parallel zur schwul-lesbischen Sichtbarwerdung kam es in Westberlin nämlich zu einer bis heute international wirksamen Selbstverständigung der trans* Community [...] Das Gleiche gilt für die auch literarisch bestechenden Originaltexte von DJ İpek İpekçioğlu, die das Format Gayhane mit kreierte, den „Neuen Wilden“ Maler, Schauspieler und Bauchtänzer Cihangir Gümüştürkmen, Gladt-Mitbegründer Koray Yılmaz-Günay, der hier seine Kindheit in einer Art Kreuzberger Niemandsland schildert, u. a., die das von „uns“ seinerzeit viel zu wenig beachtete Wachsen einer queermigrantischen Szene beschreiben – selbst schuld, dass wir es dafür anschließend mit „Deutschland“ zu tun bekamen!

Insgesamt empfiehlt Salih Alexander Wolter die Lektüre, auch wenn er kritisch anmerkt, dass "es sinnvoll gewesen [wäre], wenn der Herausgeber in seiner Einleitung in ein, zwei Absätzen sachlich die besondere Situation dieses völkerrechtlich einmaligen Gebildes „Westberlin“ dargestellt hätte". Zur ganzen Rezension geht es hier: S. 34/34; bei der Buchvorstellung in der Urania könnt ihr und können Sie sich zudem ein Bild machen. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen (es wird ein Eintritt verlankt)!

Jetzt, wo gesellschaftlich die Vormacht der Disziplinen Medizin und Biologie zaghaft hinterfragt wird und Menschen selbstbestimmt und eigenwillig ihr eigenes Geschlecht leben wollen und dabei die Mittel nutzen, die die aktuelle bürgerliche, kapitalistische Gesellschaft anbietet, stört Türcke diese „Eigenwilligkeit“ der Menschen.

Durch den Titel „Natur und Gender“ bin ich auf Christoph Türckes Buch gestoßen. Immerhin bei C.H. Beck erschienen, habe ich es mir bestellt und gelesen.

Türcke sieht die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen skeptisch: Mit Betrachtungen zu Antike und Aufklärung leitet er her, dass es damals um ein Verstehen „der Natur“ gegangen sei. Heute wolle man sie hingegen verändern. Besonders kritisch sieht er die Entwicklungen im Hinblick auf Geschlecht. Er argumentiert für mehr Mut zur „Eigenwilligkeit“ von Natur und mehr Demut vor ihr. So weit, so anregend für Diskussionen.

Allerdings bleiben die Gedanken oft zu kurz. So war die von Türcke als „gut“ betrachtete Aufklärung um 1800 nicht einfach beschreibend, sondern ein Ausgangspunkt oder Katalysator für weitreichende Naturbeherrschung. Bleiben wir beim Themenfeld Geschlecht: In den sich herausbildenden modernen biologischen und medizinischen Disziplinen wurde Geschlecht eben nicht einfach beschrieben, sondern wurden Frauen brachial herabgewürdigt. „Monströsitäten“, wie man damals sagte, sollten – durch medizinische und biologische Interventionen, also Naturbeherrschung, beseitigt und getilgt werden. Türcke spricht heute in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit und Trans* von „Abweichungen“ und „Störungen“ – genau im Sinne eines solchen alten Denkens, das sortieren und aussortieren wollte. Jetzt, wo gesellschaftlich die Vormacht der Disziplinen Medizin und Biologie zaghaft hinterfragt wird und Menschen selbstbestimmt und eigenwillig ihr eigenes Geschlecht leben wollen und dabei die Mittel nutzen, die die aktuelle bürgerliche, kapitalistische Gesellschaft anbietet, stört Türcke diese „Eigenwilligkeit“ der Menschen. Der „Machbarkeitswahn“, den Türcke zu favorisieren scheint, ist einer, der Menschen unbedingt in das dominante zweigeschlechtliche gesellschaftliche Raster zwingen will – mit Therapien und Eingriffen. Und da möchte ich erwidern: Lass die Menschen doch eigenwillig leben und nicht die Struktur zentral bleiben!

Rezensionen zum Band "Intersektionalität: Von der Antidiskriminierung zur befreiten Gesellschaft?" von Christopher Sweetapple, Salih Alexander Wolter und Heinz-Jürgen Voß.

Zum schönen Band "Intersektionalität: Von der Antidiskriminierung zur befreiten Gesellschaft?" von Christopher Sweetapple, Salih Alexander Wolter und mir sind mittlerweile einige sehr würdigende Rezensionen erschienen - sowohl deutsch- als auch englischsprachig. Im folgenden liste ich sie (unregelmäßig) auf:

"This book is a must-read for established organisations with true aspiration to become aware of intersectionality."

Birgit Hofstätter, Queer STS Forum, 5 (2020)

"On the basis of their interviews, the authors underscore the need for all initiatives organizing around sexual health and violence to become "rassismussensibel- und selbstverständlich auch trans* und inter*sensibel" (69). To this end, they demand new pedagogical materials, more diverse administrative staff with multiple cultural proficiencies and identities, and most of all, the formation of heterogeneous teams continually engaging in intersectional reflection."

Stephanie Galasso, German Studies Review [Johns Hopkins University Press], Volume 44, Number 1, pp. 228-230

"Dieses Buch von Sweetapple, Voß  und Wolter gibt eine gute Einführung zum Themenbereich Intersektionalität." "Sehr gut gelungen sind die Schlussfolgerungen nach den Interviews. [...] Besonders in den Verwaltungsstrukturen müsse sich ein kontinuierlicher Reflexionsprozess etablieren, welcher sich dauerhaft mit Rassismen beschäftige. Auch die Fördermodalitäten müssten so angepasst werden, dass auch Projekte mit 'interdisziplinären und intersektionalen Bedarfen' Chancen haben, finanziert zu werden (S. 68). Des Weiteren wird Betroffenheit als Ressource genannt, der mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden sollte (S. 69)."

Christina Pichler, politix - Zeitschrift des Instituts für Politikwissenschaft an der Universität Wien, Nr. 46 [2020]

"Im Ausblick wird empfohlen, dass Intersektionalität als Lehre von diversen Unterdrückungsphänomenen vor allem zur Analyse von Machtverhältnissen herangezogen werden kann, um sich bewusst zu machen, dass man selbst Macht ausübt und diese zu reflektieren ist. Eine Erkenntnis ist, dass das Streiten und das Aushalten von Dissonanz notwendig ist, um konkrete Partialinteressen kennenzulernen und daraus gemeinsame Interessen zu entwickeln."

Gudrun Weiß, Weiberdiwan, 2/2020, S. 7

Lesen lohnt sich also! 🙂

Neben einer frischen, sprudelnden Autobiografie und einem fundierten Einblick in juristische und biologische Belange, nimmt uns Nora Eckert mit auf einen Streifzug durch Westberlin.

Fröhlich, aber auch mit Ernst, berichtet Nora Eckert in ihrer gerade erschienenen Autobiografie „Wie alle, nur anders: Ein transsexuelles Leben in Berlin“ von ihrem Lebensweg als trans* Frau. Aus einer Arbeiterfamilie kommend, geht sie über Gießen – wo sie ihre Ausbildung macht – nach West-Berlin / Westberlin. Dort kommt sie rasch an und mag die Stadt mit all ihren Kanten. Die Stadt lässt Eckert so leben, wie sie will und wie sie ist. Ist zwar auch dort das Leben als Trans* nicht immer leicht – etwa, wenn es um die Arbeitsplatzsuche geht –, so ergeben sich doch Möglichkeiten: Nora Eckert findet eine Stelle im Chez Romy Haag, in dem Travestieclub schlechthin! Später ist sie dann langjährig als Kulturkritikerin tätig. Schwierigkeiten bereitet ihr auch das Transsexuellengesetz (TSG), das leider auch bis heute noch nicht so revidiert ist, dass Menschen ohne Hürden Vornamen- und Personenstandsänderung vornehmen lassen können.

Neben einer frischen, sprudelnden Autobiografie und einem fundierten Einblick in juristische und biologische Belange, nimmt uns Nora Eckert mit auf einen Streifzug durch Westberlin, durch eine Stadt, die Menschen Zuflucht vor der Bundeswehr bot (weil das Militär dort nicht einziehen durfte), mit einem ungeheuren kulturellen Leben und wo man den Winter riechen konnte. Die „Berliner Schnauze“ und das schnörkellose „Antipathos“ der Berliner*innen findet Nora Eckert von Anfang an vertraut. Und so ist der Band nicht nur eine lesenswerte Autobiografie, sondern auch eine Liebeserklärung an das vergangene Berlin. Lesen!

Nora Eckert: Wie alle, nur anders: Ein transsexuelles Leben in Berlin. München: C.H. Beck. Verlagslink.

Aus seinen mehreren Dutzend Büchern und hunderten Aufsätzen hat er für den Band „Kritische Sexualwissenschaft: Ein Fazit“ eine Auswahl getroffen, die schon aufgrund ihrer Spannbreite entsprechend interessant ist.
Cover von: "Kritische Sexualwissenschaft: Ein Fazit"

Volkmar Sigusch, eine*r der bedeutendsten Sexualwissenschaftler*innen in Deutschland und auch weltweit, leitete von 1973 bis 2006 das Institut für Sexualwissenschaft im Klinikum der Universität Frankfurt/Main. Er hat Medizin, Psychologie und Philosophie – letztere unter anderem bei Max Horkheimer and Theodor W. Adorno – studiert und gilt, so die Brockhaus Enzyklopädie, als Begründer der „Kritischen Sexualwissenschaft“. Aus seinen mehreren Dutzend Büchern und hunderten Aufsätzen hat er für den Band „Kritische Sexualwissenschaft: Ein Fazit“ eine Auswahl getroffen, die schon aufgrund ihrer Spannbreite entsprechend interessant ist. Zugleich ist der Band – und das darf vorweggenommen werden – auch für ein breites Publikum gut lesbar. Denn nicht zuletzt gilt Sigusch als „brillanter Essayist“, wie der Verlag nicht unzutreffend schreibt.

Für socialnet.de habe ich den Band rezensiert - hier gehts zur Besprechung.

Von Heinz-Jürgen Voß. Die Rezension erscheint in den „Rosigen Zeiten“, Oldenburg.

Zwei aktuelle Bücher wenden sich Fragen von Dominanz und Marginalisierung zu. Dabei ist Trans* ein zentraler Fokus, der im Band von Mika Murstein in Verwobenheit mit anderen Herrschaftskategorien gedacht wird.

In dem Buch „Trans. Frau. Sein. – Aspekte geschlechtlicher Marginalisierung“ geht Felicia Ewert Diskriminierungen nach, denen Frauen, die auch trans* sind, gesellschaftlich unterliegen. Dabei nimmt sie die Leser*innen von Anfang an mit, auch diejenigen, die sich noch nicht so intensiv mit Fragen um Trans*- und Cis-Geschlechtlichkeit befasst haben. So erläutert Ewert zunächst ihren Zugang zum Thema und die verwendeten Begriffe, um sich danach Fragen zuzuwenden, wie Geschlecht in der deutschen Gesellschaft gedacht wird. Dabei erläutert sie, wie oft ein Biologismus vorherrscht, mit dem schon rechtlich – gleich nach der Geburt – auf ein Geschlecht erkannt wird. Im alltäglichen Umgang in der Gesellschaft wirke dieser Biologismus fort: So suchten Menschen im alltäglichen Umgang nach Kennzeichen an den Menschen, mit denen sie Umgang haben, um sicher ein Geschlecht erkennen zu können. Dabei nutzten sie insbesondere körperliche Merkmale, um Sicherheit zu erlangen. Möglichkeiten geschlechtlicher Selbstbestimmung werden so begrenzt, wie Ewert plausibel darlegt: Menschen müssen stets erst gegen die stereotypen Vorannahmen angehen, bevor eine Offenheit beim gegenüber entsteht, die tatsächliche individuelle Geschlechtsidentität wahrnehmen zu wollen und zu können. Ausführlicher erläutert die Autorin die medizinisch-juristische Begutachtungspraxis, der Personen nach dem Transsexuellengesetz unterzogen werden, bis sie auch staatlich und rechtlich in ihrem eigenen Geschlecht anerkannt werden. Ewert stellt dabei auch dar, welchen Einfluss diese Begutachtungspraxis auf die Darstellungs- und Sprechweisen von trans* Personen haben.

Dieser gesellschaftliche Rahmen, der die Ordnungskategorie „Geschlecht“ in der deutschen Gesellschaft im Blick hat, wird von der Autorin in Richtung von Diskriminierungserfahrungen insbesondere von Frauen, die auch trans* sind, erweitert. Dabei geht es u. a. um Erfahrungen im akademischen Betrieb, bei der Toilettennutzung, aber auch in linken und feministischen Kontexten. So herrschten auch in einigen aktuellen feministischen Strömungen deutlich trans*-feindliche Setzungen vor. Das gehe oft insbesondere mit einem unreflektierten Bezug auf biologischen Essentialismus zusammen, mit dem die Unterschiedlichkeit der Frauen untereinander negiert werde.

Ewert legt damit ein starkes und auch kritisches Buch vor, dass einerseits Diskussionen anregen soll. Andererseits soll es Frauen stärken, die auch trans* sind und allen anderen Leser*innen einen Zugang ermöglichen, Marginalisierungserfahrungen von Trans*-Personen und deren Kämpfe gegen Diskriminierungen zu verstehen – und diese zu unterstützen.

Mika Murstein zeigt im Buch „I'm a queerfeminist cyborg, that's okay: Gedankensammlung zu Anti/Ableismus“ die Verwobenheit von Herrschaftsverhältnissen auf. Dabei fokussiert Murstein auf Be_Hinderung. Mit der Großschreibung von „Hinderung“ macht sie*er deutlich, dass die Gesellschaft Menschen „hindert“, ihnen also Grundrechte verwehrt. In den aktuellen Diskussionen um Be_Hinderung fehle bisher vollkommen „die Vorstellung von Be_Hinderung als andauerndem und lebenswertem Zustand […]. Als erstrebenswerte Zukunft gilt meist die Zukunft ohne Behinderung.“ (S. 11f.) Als Gegenmodell formuliert Murstein den Ansatz der „Crip future“:

„Crip future ist eine Zukunft, in der Behinderung und ein lebenswertes, erfülltes Leben, wie es schon heute be_hinderte Menschen führen, nicht als Gegensatz konstruiert werden. In meiner Vision von crip future besitzen wir alle Werkzeuge und Hilfsmittel, die wir brauchen, die Teilhabe, Partizipation und Mobilität bedeuten würden. Diese Werkzeuge, Technik und Hilfsmittel gibt es schon reichlich, aber in der Gegenwart ist der Zugang zu ihnen beschränkt. […] Hilfsmittel sind cool. Nur leider nicht im herrschenden Diskurs. Zum Beispiel sagt die Redensart „Das ist doch nur eine Krücke!“ viel über die Sicht auf gesundheitliche Einschränkungen aus. Sie spiegelt die Wahrnehmung, es sei eine Schwäche, eine Krücke zu brauchen, wider. Dabei ist eine Krücke hilfreich, weil sie Halt und Mobilität bedeutet, genauso wie eins nicht an den Rollstuhl ‚gefesselt‘ ist, sondern dieser ermöglicht, von A nach B zu kommen und an der Welt teilzuhaben.“ (Ebd.)

Ausführlicher geht Murstein auf psychische Erkrankungen ein. Die Einschränkungen von Menschen mit psychischen Erkrankungen werden in der Gesellschaft oft nicht gesehen oder, sofern sie gesehen werden, werden sie aufgeladen und teilweise sogar Berufsverbote etwa gegen Menschen, die an Depressionen leiden, diskutiert – anstatt Voraussetzungen zu schaffen, in denen ein Mensch gut mit dieser Erkrankung umgehen kann. Wie negativ psychische Erkrankungen gesellschaftlich besetzt sind, macht Murstein mit Blick auf Debatten nach Amokläufen deutlich:

„Nach sogenannten Amokläufen meist weißer Männer wird schnell nach einer psychischen Erkrankung und Ähnlichem als Auslöser gesucht. Da kann jemensch vorher ellenlange hasserfüllte Pamphlete ins Internet gestellt haben, plötzlich ist die Person, ohne vorher jemals diagnostiziert worden zu sein, angeblich ‚geisteskrank‘, ‚persönlichkeitsgestört‘ oder, auch sehr beliebt: ‚autistisch‘. Für Betroffene der disability community (Gemeinschaft) ist es immer sehr furchtbar, wenn eine solche Tat passiert und wenn bei der darauffolgenden Berichterstattung auf diese ableistischen Tropen (Sprachfiguren) zurückgegriffen wird.“ (S. 34)

Bereits aus den kurzen Zitaten wird die sensible Sprachverwendung deutlich, die die*der Autor*in nutzt: Gut lesbar und unaufdringlich werden Erläuterungen gegeben; Begriffe werden so genutzt, dass sie klar sind und gleichzeitig nicht diskriminieren. Be_Hinderung in Gesellschaft wird nicht allein, sondern verwoben mit anderen gesellschaftlichen Strukturkategorien – Herrschaftskategorien – betrachtet. Dabei sind Rassismus, das Geschlechter- und das Klassenverhältnis im Blick. Im besten Sinne wird Intersektionalität vorgestellt und erläutert und dabei die einschlägige Literatur eingewoben – so u.a. Edward Said, Kimberlé Crenshaw, Étienne Balibar, Maisha Eggers, May Ayim, Grada Kilomba und Christiane Hutson. Es werden historische Perspektiven auf Kolonialismus, die deutsche „Rasseforschung“ und sozialdarwinistische / eugenische Wissenschaft eröffnet.

Neben der gesamtgesellschaftlichen Einordnung, kommt Murstein in den weiteren Kapiteln auf die ganz konkreten Auswirkungen der Herrschaftskategorien – in ihrer Verwobenheit – auf Menschen zu sprechen. Dabei bringt sie*er auch eigene biografische Erfahrungen ein. Für das Verständnis der Herrschaftskategorien und ihrer Wirkung auf ganz konkrete Menschen hat Murstein überdies ein Interview mit der* Aktivist*in und Schriftsteller*in SchwarzRund geführt und in den Band eingebunden, das ebenfalls sehr lesenswert ist. Abschließend werden „reaktionäre Diskurse“ (S. 410) gewürdigt, die gerade hinter die aktuellen intersektional entwickelten kapitalismuskritischen Analysen zurück und weiße Menschen als Standard belassen wollen. Wohltuend ist es, dass Murstein – wie auch Ewert im zuvor angeführten Band – sich als von Diskriminierungen und Gewalt betroffen benennen, aber gleichzeitig deutlich machen, dass sie in Bezug auf Kolonialismus und Rassismus als weiße Personen zur privilegierten Seite zu zählen sind. Solche Analyse und (Selbst-)Reflexion ist für mehr Arbeiten wünschenswert!

Kurz: Bei „I'm a queerfeminist cyborg, that's okay“ handelt es sich um einen äußerst gelungenen Band, der gut lesbar ist und viele Perspektiven eröffnet. Ihm ist ein großes Publikum zu wünschen.

Felicia Ewert
Trans. Frau. Sein. – Aspekte geschlechtlicher Marginalisierung
Münster: edition assemblage
Oktober 2018, 176 Seiten, 14,80€
ISBN: 978-3-96042-040-8

Mika Murstein
I’m a queerfeminist Cyborg, that’s okay – Gedankensammlung zu Anti/Ableismus
Münster: edition assemblage
Juli 2018, 464 Seiten, 14,80€
ISBN: 978-3-96042-031-6

Gern weise ich an dieser Stelle einmal auf die Bücher hin, die ich im Jahr 2018 besprochen habe. Ganz besonders empfehlen möchte ich dabei die drei Bücher, die von Yener Bayramoğlu, Ann Wiesental bzw. Ulrich Würdemann verfasst wurden! Siehe die Rezensionen:

Rezension von "Pornografie und psychosexuelle Entwicklung im gesellschaftlichen Kontext. Psychoanalytische, kultur- und sexualwissenschaftliche Überlegungen zum anhaltenden Erregungsdiskurs"; von Alexander Korte. Auf: socialnet, 27.12.2018 (Online).

Rezension von: "Queertheoretische Perspektiven auf Bildung. Pädagogische Kritik der Heteronormativität"; hg. von Jutta Hartmann, Astrid Messerschmidt, Christine Thon. Auf: socialnet, 27.12.2018 (Online).

Rezension von: "Sexualisierte Gewalt an erwachsenen Schutz- und Hilfebedürftigen"; von Martin Wazlawik, Stefan Freck (Hg.). Auf: socialnet, 25.6.2018 (Online).

Rezension von: "Die Vereindeutigung der Welt. über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt"; von Thomas Bauer. Auf: socialnet, 12.6.2018 (Online).

Rezension von: "Sexualität und soziale Arbeit"; von Alexandra Klein, Elisabeth Tuider (Hg.). Auf: socialnet, 30.5.2018 (Online).

Rezension von: "Queere (Un-)Sichtbarkeiten. Die Geschichte der queeren Repräsentationen in der türkischen und deutschen Boulevardpresse"; von Yener Bayramoğlu. Auf: socialnet, 15.3.2018 (Online).

Rezension von: "Geschlecht im flexibilisierten Kapitalismus? Potenziale von Geschlechter- und Gesellschaftstheorien"; von Ilse Lenz, Sabine Evertz und Saida Ressel (Hg.). Auf: socialnet, 15.3.2018 (Online).

Rezension von: "Antisexistische Awareness. Ein Handbuch"; von Ann Wiesental. Auf: socialnet, 13.3.2018 (Online).

Rezension von: "Varianten der Sexualität. Studien in Ost- und Westdeutschland"; von Kurt Starke. Auf: socialnet, 13.3.2018 (Online).

Rezension von: "Widersprüche des Medizinischen. Eine wissenssoziologische Studie zu Konzepten der 'Transsexualität'"; von Katharina Jacke. Auf: socialnet, 7.3.2018 (Online).

Rezension von: "Politiken in Bewegung. Die Emanzipation Homosexueller im 20. Jahrhundert"; von Andreas Pretzel, Volker Weiß (Hg.). Auf: socialnet, 26.2.2018 (Online).

Rezension von: "Expert_innen des Geschlechts? Zum Wissen über Inter*- und Trans*-Themen"; von Kim Scheunemann. Auf: socialnet, 7.2.2018 (Online).

Rezension von: "Magnus Hirschfeld und seine Zeit"; von Manfred Herzer. Auf: socialnet, 29.1.2018 (Online).

Rezension von: "Queer Wars: Erfolge und Bedrohungen einer globalen Bewegung"; von Dennis Altman und Jonathan Symons. Auf: socialnet, 26.1.2018 (Online).

Rezension von: "Schweigen = Tod, Aktion = Leben. ACT UP in Deutschland 1989 bis 1993"; von Ulrich Würdemann. Auf: socialnet, 25.1.2018 (Online).

Rezension von: "Demo. Für. Alle.. Homophobie als Herausforderung"; von Detlef Grumbach (Hg.). Auf: socialnet, 24.1.2018 (Online).

Sehr gern weise ich auf das gerade erschienene Buch "Queere (Un-)Sichtbarkeiten. Die Geschichte der queeren Repräsentationen in der türkischen und deutschen Boulevardpresse" von Yener Bayramoğlu hin. Es ist sehr lesenswert - ich habe es gerade für soicalnet.de rezensiert:

Der vorliegende Band beschäftigt sich mit den Darstellungen von LSBTI* (Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans*, Inter*) in deutschen und türkischen Boulevardmedien. Yener Bayramoğlu hat dazu die Tageszeitungen „Bild“ (Deutschland) und „Hürriyet“ (Türkei) auf relevante Inhalte zu Genderambiguität, Lesben, Trans* und Schwulen ausgewertet. Die Ergebnisse stellt er vergleichend dar und ordnet sie theoretisch in die Forschungen zu Sichtbarkeit / Unsichtbarkeit ein.

Zur Rezension gehts: hier.