Wer feste Identitäten mag, ist in der schwulen Literatur und Kunst in der Regel nicht richtig. Dort zeigen sich Auflösungen und ambige Aushandlungen, die sexuelle Akte, Verlangen und konkretes menschliches Miteinander in den Mittelpunkt stellen. Oder, wie Dirck Linck im vorliegenden Buch Hubert Fichte zitiert:
„Ich lobe den Arsch, den ich fühlen kann, sehen, riechen, schmecken, hören, den sinnlichsten von allen! […] Ich lobe den Arsch, der ist wie ein Auge, das wie die Welt ist, die wie ein Arsch ist!“ (Pubertät; nach: Linck, S. 118)
Wunderbar, dass es literaturwissenschaftliche Meister_innen gibt, die auch jenen einen Zugang zu Literatur ermöglichen, die erst eine kleine Hilfestellung benötigen – einen freundlichen Hinweis. Ich bin eine solche Person, die für Hilfestellung dankbar ist, die gern liest, aber gern auf andere Lesweisen aufmerksam gemacht wird. Dirck Linck gehört zu denen, die zur Hilfestellung in der Lage sind. Er ist ein ausgewiesener Kenner der subversiven, gendervarianten, schwulen und queeren Literatur – und macht Lust darauf, sie zu lesen, neu zu interpretieren und sich von ihr neu, politisch und aktivistisch inspirieren zu lassen. Und Linck schlägt anregende Perspektiven selbst vor, über die der Austausch lohnt.
„Creatures: Aufsätze zu Homosexualität und Literatur“ von Dirck Linck ist ein solches, in vielerlei Hinsicht anregendes Buch. Es bindet Aufsätze zusammen, die zur Literatur und Kunst von Dirck Linck veröffentlicht wurden und die – in der aktuellen aufgeheizten und aufgehetzten gesellschaftlichen Atmosphäre – ruhig, bedacht und doch politisch sind. Linck zeigt die Bedeutung und Wirkung von Literatur und Kunst auf – seit dem 18. Jahrhundert und fokussiert insbesondere auf das 20. Jahrhundert. Dabei legt er interdisziplinäre Einsichten der verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen zugrunde, die eine ahistorische Sicht auf Homosexualität kritisierten und die jeweilige konkrete zeitgeschichtliche Einordnung forderten. Linck zeigt zugleich, was mit dieser Perspektive literarisch und mit Blick auf aktuelle politische Entwicklungen zu gewinnen ist:
„Eine Geschichtsschreibung der Sieger scheidet den integrierten und auf Integration bedachten (europäisch-amerikanischen) Schwulen der Gegenwart vom unterdrückten Homosexuellen der Vergangenheit und zugleich von der mitlebenden Klemmschwester, der exzentrischen Tunte, dem aufgeputzten Ledermann, den Homosexualitäten der großen Rest-Welt. Der auf Gleichheit und ‚Normalität‘ pochende Schwule liefert den Maßstab […]. Siegergeschichte aber erschwert Selbst- und Zeitreflexion;“ (S. 12)
Linck lädt dazu ein, nicht eine einfache Geschichte der Sieger zu schreiben, sondern im schwulen und queeren Gedächtnis Raum zu machen für andere Lesweisen, für das konkrete schwule Leben. Und dabei auch zu erkennen, wie auch Gedächtnis immer Prozess ist – und also auch gerade das Jetzt, Hier und Heute abbildet.
Der Versuch der Synchronisierung der Homosexuellen zu den Heterosexuellen führe dazu, dass die geschichtlichen und konkreten schwulen Perspektiven marginalisiert werden und das seit der europäischen Moderne dem Gleichgeschlechtlichem zugeschriebene „Unnatürliche“, „Verwerfliche“, „Abstoßende“ in den Begriffen und Betrachtungen nicht aufgenommen ist. Nur der Homosexuelle, der „seine Sinnlichkeit dauerhaft disziplinieren und organisieren kann“ (S. 24), ist dann repräsentiert, aber auch er kann nicht in der disziplinierenden bürgerlichen Ordnung vollständig aufgehen, da sein sexueller Akt in dieser Ordnung auch weiterhin nicht andersgeschlechtlich funktional ist.
Linck sieht den Anteil der Homosexuellen selbst, sich in der bürgerlichen Ordnung zu disziplinieren und sich dem medizinischen und soziologischen Diskurs zu unterwerfen:
„[D]er Homosexuelle unterwarf sich den Normen des Diskurses. Als ästhetische Erscheinung wurde der Homosexuelle zulässig, nachdem er von der naturwissenschaftlich-psychiatrischen Rede des 19. Jahrhunderts seinen Platz in der Natur zugewiesen bekommen hatte. Und indem er (auch literarisch) demonstrierte, ihn einnehmen zu wollen. […] Er unterwirft sich dem Geschmack und der Norm zugleich […]. Es war ein Ausweg. Spätere Erfahrung lässt ihn als Sackgasse erscheinen. Dass Teile der Homosexuellenbewegung die Strategie als Befreiung missverstanden, hat dem Nachdenken über die Potenzialität der Homosexualität nicht geholfen. Emanzipation meint allemal nachholende Entwicklung, Orientierung an den Siegern, Spucken und Handschlag.“ (S. 27)
Mit einem Durchgang durch literarische Quellen vertieft Dirck Linck diese Perspektive. So wird in den beiden sich an den einführenden Aufsatz anschließenden Beiträgen zu und mit den Worten der beiden Autoren Josef Winkler und Hans Henny Jahnn das gesellschaftliche Bestreben der Einhegung und Domestizierung der Schwulen deutlicher. Mit Jahnns „Perrudja“ erläutert Linck die Zurichtung, die Jugendlichen und Heranwachsenden auf dem Weg zu ihrer klaren kategorialen (Selbst-)Einordnung widerfährt:
„Im Wissen der Knaben Jahnns findet gerade das Geltung, was unter dem Vorwand der Objektivierung von der Moderne als unwissenschaftlich ausgesondert wurde: Einfühlung, Erotik, Intuition, Erbarmen im Umgang mit der Welt. Alles Vermögen, die anachronistisch schienen, als die Wissenschaftler exakt wurden […].“ (S. 51)
Linck bleibt in der Beitragssammlung aber nicht bei einem solchen Blick, der auf das domestizierte Produzieren schwuler Erfahrung in der Moderne fokussiert und dabei durch die prozesshafte Darstellung dennoch – auch schon in den ersten Aufsätzen – Möglichkeitsräume eröffnet. In den weiteren Beiträgen wendet sich Linck mehr diesen Erfahrungs- und Möglichkeitsräumen zu. Diese sieht er insbesondere in der Popkultur, beginnend mit den 1960er Jahren, die gerade durch Ausprobieren und Offenheit auch hinsichtlich geschlechtlicher Selbstinszenierungen (männlicher) Jugendlicher geprägt ist:
„Der Popkörper trug die Spuren transgestischer und transvestitischer Anstrengungen. Seine Botschaften wiesen ihn als Element von sozialen und kulturellen Innovationsschüben aus, in deren raschem Gang konventionelle Geschlechterrollenbilder und Geschlechtsidentitäten überprüft und kritisiert wurden.“ (S. 77)
Dabei sei es den Jugendlichen gerade darum gegangen, sich Normen und Zurichtungen zu entziehen. Und das Abhängen und Relaxen wurde zu einem konkreten zentralen Zeichen jener Popkultur. Gegen den männlichen Normkörper grenzten sich die Jugendlichen ab und die männlichen Jugendlichen changierten dazu mit kreativen Zeichen der eigenen geschlechtlichen Zurichtung. Dadurch schafften sie auch Zugänge, Geschlecht zu reflektieren. Und die Abwehr richtete sich nicht ohne Grund gegen den männlich normierten Körper:
„Der heldenhafte Körper geriet nicht zufällig in den Blick; er war den Jugendlichen extrem präsent als massenmedial zirkulierender Körper, der in Vietnam tötete und aus Vietnam als fetischisierter Leichnam zurückkehrte. Als vollkommener Ehemann. Er war Teil der inneren Codierungen der Jugendlichen, deren Widersprüchlichkeit neue Identifikationen hervortrieb. Wer jetzt noch auf der Suche nach Identität war, orientierte sich an ‚Weiblichkeit‘ und verweigerte den Kriegsdienst.“ (S. 79)
Auch in den weiteren Beiträgen zielt Linck auf Möglichkeitsräume über den Durchgang ausgewählter Literatur und Kunst – unter anderem von Hubert Fichte und Irving Rosenthal. Markant ist ein Beitrag zu künstlerischen Reaktionen auf die Aids-Krise, der in Phasen und mit Blick auf verschiedene Künstler einen thematischen Zugang eröffnet, der wiederum Kreativität sowie die verschiedenen Wege der Auseinandersetzung aufzeigt, vor dem Hintergrund einer bedrohlichen Situation:
„In der ersten Phase von Aids, die sich bis 1987 erstreckte, reagierten Künstler stark individuell auf diese Krise. Sie thematisierten vor allem Angst- und Verlusterfahrungen sowie ihre Furcht vor Stigmatisierung und staatlichen Zwangsmaßnahmen, von denen bekannt war, dass sie auf die Ausgrenzung, ja Internierung von Erkrankten hinausliefen. […]
In den späten 80er Jahren verfielen alle Formen der Repräsentation des erkrankten Körpers der Kritik von Betroffenen und Aktivistengruppen. Verantwortlich dafür waren zwei miteinander verschlungene Entwicklungen. Zum einen ließ die mediale Konstruktion des Aidskranken als eines isolierten Sterbenden, der von der Lustseuche dahingerafft wird, fotografische und filmische Repräsentationen des Körpers von Menschen mit Aids zunehmend in den Verdacht geraten, Bilderbeute für das System zu liefern […]. Zum anderen schienen weder diese immer gleichen Bilder des immer gleichen Verfalls junger weißer Männer noch die melancholischen Zeugnisse des quasi ‚privaten‘ Lebens mit Aids in der Lage zu sein, die politische Dimension der Krise zu erfassen. Das Leben mit der Krankheit und das Sterben an ihr vollzogen sich vor allem in den USA, einem Land ohne allgemeine Krankenversicherung, gänzlich unterschiedlich entlang der Differenzen von gender, class, sex und race, ohne dass die in den Medien zirkulierenden Bilder davon irgendetwas erzählten.“ (S. 173, 179)
Auch hier eröffnet Linck mit seinem genauen und verschränkenden Blick einen Zugang zur Verwobenheit von Kunst und Aktivismus, zum aktivistischen Streiten von Künstlern und dem künstlerischen Streiten von Aktivisten. Schwul wird damit konkret und an einzelnen Personen erfahrbar, zahlreiche der Personen konnten die weitere Entwicklung nicht mitgestalten, weil sie früh an Aids starben.
Dirck Lincks wunderbarer Streifzug durch schwule Literatur und Kunst ist absolut empfehlenswert. Gerade wenn schwule Geschichte in das deutsch-nationale „Wir“ eingehegt werden soll, wie es heutzutage versucht wird, lohnt ein genauer, an den jeweiligen zeitlichen Kontexten und den konkreten schwulen Erfahrungen interessierter Blick. Literarische und künstlerische Arbeiten bieten hier viel an; Lincks Buch „Creatures: Aufsätze zu Homosexualität und Literatur“ ermöglicht einen fundierten Einstieg und gründliche Einordnung; zugleich ist der Band selbst eine solche literarisch-künstlerische Arbeit.
Dirck Linck: Creatures. Aufsätze zu Homosexualität und Literatur. Hamburg 2016: Männerschwarm-Verlag. Informationen.