Auch wenn die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) die Aussagen von Professorin em. Karla Etschenberg gleich durch den Beitragstitel "Das wäre ein Beitrag zur Sexualisierung von Kindern" in die eigene politische Stoßrichtung eindeutig einzutüten sucht, ist das Interview von Etschenberg vielschichtig. Deutlich spricht sie sich in einem Interview zum neuen Rahmenlehrplan zur Sexualerziehung in Hessen für eine Sexualerziehung aus, in der auch die Toleranz gegenüber Lesben, Schwulen, Trans* und Inter* eine wichtige Rolle spielt. Diese Bezüge habe es auch in dem zuvor existierenden Rahmenlehrplan bereits gegeben. Etschenberg stört sich beim neuen Rahmenlehrplan aber daran, dass die klar identitätsbezogene Formulierung "LSBTI" zu plakativ daherkomme und etwa die Bedürfnisse von asexuellen und heterosexuellen Jugendlichen sich darin nicht finden. Das ist ein bedenkenswerter Aspekt, da es in der Sexualerziehung (neuer: Sexuelle Bildung) eigentlich darum gehen sollte, dass Kinder und Jugendliche für ein positives Verständnis und Erleben der eigenen Sexualität befähigt werden sollen, anstatt sich klar in die Schablonen "homosexuell" oder "heterosexuell" einfügen zu müssen. Achtsamkeit muss hier gerade Raum dafür lassen, dass sich Kinder und Jugendliche nicht klar einpassen wollen. Gleichzeitig ist es wichtig - und auch das macht Etschenberg deutlich -, dass Kinder und Jugendliche zu Akzeptanz gegenüber lesbischen und schwulen Beziehungen befähigt werden sollen. Etwaige Forderungen von einem Elternverband nach einer dogmatischen christlichen Sexualmoral in Schulen weist sie zurück und fordert:
"Toleranz hat aber etwas mit Duldung zu tun und klingt gönnerhaft. Das ist betroffenen Menschen in einer aufgeklärten demokratischen Gesellschaft nicht zuzumuten und sollte nicht Grundlage von Sozial- und Sexualerziehung an staatlichen Schulen sein. Die christlich-katholische Sichtweise kann im Elternhaus und im Religionsunterricht thematisiert und begründet werden."
In der Schule solle von Akzeptanz gesprochen werden. Gleichzeitig wünscht sie sich offenere und kommunikative Aushandlung mit den Eltern.
Beachtenswert ist auch ein weiterer Hinweis, den Etschenberg bringt. Die aus der Biologiedidaktik kommende Kollegin weist darauf hin, dass im neuen hessischen Rahmenlehrplan zu stark von "geschlechtsspezifischen" Merkmalen die Rede sei. So führt sie aus:
"Merkwürdig ist, dass in Richtlinien, in denen ein modernes Verständnis von Geschlechtlichkeit und Gleichberechtigung eine große Rolle spielt, mehrmals das traditionelle, ideologisch belastete und wissenschaftlich unhaltbare Adjektiv „geschlechtsspezifisch“ für den Verhaltensbereich verwendet wird."
Diese Aussage greift der FAZ-Journalist Matthias Trautsch sogleich auf, so dass er nachfragt, ob es denn keine "geschlechtsspezifischen" Merkmale gebe. Die Biologiedidaktikerin erläutert ihm:
"Doch, aber nur ganz wenige im Zusammenhang mit der Fortpflanzung. Bei der Frau zum Beispiel das Stillen, das kann kein Mann. Oder beim Mann das Zeugen, das kann keine Frau. Das meiste ist nur geschlechtstypisch, es kommt bei Männern und Frauen statistisch gehäuft vor, zeigt sich aber auch beim jeweils anderen Geschlecht: Wenn es trotzdem als geschlechtsspezifisch bezeichnet wird - Männer sind zum Beispiel mutig, aggressiv, handwerklich begabt und geeignet für Führungspositionen, Frauen sind fürsorglich und kinderlieb und bevorzugen soziale Berufe -, dann ist das Teil einer konservativen Ideologie. Das haben die Autoren des Lehrplans, in dem doch sonst so viel von Vielfalt und selbstbestimmten Verhalten die Rede ist, offenbar nicht verstanden."
Etschenberg wendet sich hier klar gegen eine "konservative Ideologie", die offenbar auch zunehmend emanzipatorische Lesweisen präge, die sich für Akzeptanz und Vielfalt in Bezug auf Geschlecht und Sexualität ausspreche. Das ist ein wichtiger Hinweis - offenbar ist die Ideologie vorherrschender Zweigeschlechtlichkeit in der aktuellen deutschen Gesellschaft so stark, dass auch emanzipatorisch Streitende auf vermeintlich feste Gewissheiten hereinfallen. Einige Erweiterungen wären über die Ausführungen von Etschenberg hinaus gewiss angebracht, schließlich gibt es nach Personenstand in der Bundesrepublik eine ganze Reihe Männer, die Kinder haben und die ihre Kinder gestillt haben, bzw. Frauen, die Kinder gezeugt haben. Will Etschenberg Akzeptanz gegenüber Trans*- und Inter*-Personen, so gilt es hier sensibler zu sein. Vielleicht war der Raum im Interview zu knapp? Es wäre erfreulich, wenn Etschenberg einmal einen ausführlichen Vorschlag für eine Sexualerziehung/Sexuelle Bildung aus ihrer Sicht in einem aktuellen wissenschaftlich fundierten Band veröffentlichen würde. Ihre letzte ausführliche Einlassung geht auf das Jahr 2012 zurück - damals wirkte sie an einer 35-seitigen Broschüre der BZgA mit. Ein ausführliches Fachbuch oder zumindest ein längerer Fachaufsatz wären wünschenswert.
Sicherlich stößt einigen Lesenden des FAZ-Beitrags der Begriff "Sexualisierung" auf, den Etschenberg anführt. Auch Etschenberg geht davon aus, dass bereits ab dem Kindesalter geschlechtliches und sexuelles Lernen stattfinde und Kinder und Jugendlichen mit ihren Fragen wertgeschätzt und ernstgenommen werden müssen. Auch ihre jeweilige Identität müsse akzeptierend wahrgenommen werden. Dafür kennt Etschenberg immerhin auch die desaströsen Zahlen regionaler und europäischer Studien, nach denen 20% der lesbischen und schwulen Jugendlichen und 40% der Trans*-Jugendlichen mindestens einen Suizidversuch unternommen haben - deutlich mehr als unter den heterosexuellen (10%). Aber Etschenberg nutzt einerseits einen anderen Begriff von Sexualität und folgt nicht der in weiten Teilen der Sexualwissenschaften verbreiteten Aufassung eines heterologen Konzepts der psychosexuellen Entwicklung, nach der etwa auch das orale Saugen des Säuglings an der Brust oder einer Milchflasche als "sexuelle Phase" gelesen wird und auch die jeweiligen Körpererkundungen des Kindes an sich und später in Doktorspielen als "sexuelle Entwicklungsphase" einzuordnen seien. Vielmehr scheinen Etschenberg hier andere Begriffe als "kindliche Sexualität" näher, etwa "Körperlernen" oder ähnliches. Als zweiten Punkt möchte sie mehr, dass das Kind und der Jugendliche jeweils im Fokus blieben und ihre Fragen konkret beantwortet werden und einiger Lernstoff zu Sexualorganen, Verhütung, Liebe, Pornographie, Medien etc. dazu komme. Gegen eine starke Fokussierung auf starre Identitäten (heterosexuell, asexuell, LSBTI) entwickelt sie hingegen Abwehr. Hier gilt es, ins Gespräch zu kommen - und sollte Etschenberg sich auch fragen lassen, wie sie etwa für das Bundesland Sachsen einen Entwurf für einen Rahmenlehrplan mit auf den Weg bringen konnte, in dem auf immerhin gedehnten 14 Seiten nur einmal und ausschließlich im Literaturverzeichnis der Begriff "Verhütung" vorkommt. Gemeinsame Arbeit der sexualpädagogischen Wissenschaft an einem umfassenden und vernünftigen Rahmenlehrplan könnte hier hilfreich sein. In einem Umfeld aus Angriff und Verteidigung und unter den dauerhaften Attacken christlicher Kleinstgruppen, die schulische Sexualpädagogik generell in Frage stellen, ist diese Aushandlung kaum möglich. Immerhin - und darauf sei verwiesen - ist in Sachsen-Anhalt unter der CDU-SPD-Regierung 2015 ein recht guter Rahmenplan verabschiedet wurden, auch wenn auch in diesem der von Etschenberg zu Recht beanstandete Begriff "geschlechtsspezifisch" einfach unreflektiert verwendet wird (Rahmenplan Sachsen-Anhalt); und auch der neue hessiche Rahmenlehrplan ist ordentlich.