Springe zum Inhalt

Die Kritik in „Beißreflexe“ hat keinen intellektuellen Biss, sondern will nur verletzen. Eine Auseinandersetzung mit dem aktuellen Diskussionsstand.

Eine Kritik kann bereichernd sein. Sie kann dazu führen, dass Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden. Sie kann gut formuliert sein, und sie kann, obwohl oder gerade weil sie scharf ist, Spaß bereiten. Es ging mir schon so, dass ich eine Kritik als so beißend und unzutreffend erlebte – und ihr gleichzeitig Respekt zollen musste, auf Grund ihres Stils und einer bemerkenswerten Wortgewandtheit. Eine solche Kritik bedeutet für mich aber auch stets, dass eine gewisse Ebene gewahrt wird: Es geht einer Kritik um die Sache, um die Auseinandersetzung – nicht um Denunziation, Verleumdung und Beleidigung der Diskussionspartner_innen oder eben auch einmal der Gegner_innen.

Eine solche Kritik sucht man in dem Buch „Beißreflexe“ vergebens. Die dortige Kritik hat keinen intellektuellen Biss, sondern will nur verletzen. Statt sich die Mühe zu machen, sich mit Argumenten von Diskussionspartner_innen oder „Gegner_innen“ pointiert auseinanderzusetzen, werden sie verzerrt, unvollständig und unaufrichtig dargestellt. Bereits der Titel „Beißreflexe“ – und wie er vom Herausgeber und den Autor_innen eingeführt wurde – nimmt den Diskussionspartner_innen und den stilisierten Gegner_innen das Argument aus dem Mund: Es sei ja doch nur eine – so wird unterstellt – der „üblichen“ und „nicht gerechtfertigten“ Positionen, die da kommen würde, eben „Beißreflexe“. Wer die von den Macher_innen von „Beißreflexe“ lancierte Twitter-Diskussion verfolgt hat, merkte rasch, wie sie sich geradezu nach der Selbstverteidigung der Angegriffenen sehnten, um dann gleich zu SCHREIEN, dass das ja alles Beißreflexe seien.

Johannes Kram führte in einer Auseinandersetzung mit einer Vorstellung des „Beißreflexe“-Buches aus, dass auch „ein LGBTIQ*-Populismus“ nicht grundsätzlich „schlecht sein muss“ (1). Gerade in der aktuellen, durch Rechtspopulismus getragenen Entwicklung könne er in der Lage sein, die Interessen von LGBTIQ* so zuzuspitzen, dass sie gesellschaftlich weiterhin verstanden würden. Doch der Herausgeber des Sammelbandes „Beißreflexe“, Patsy l’Amour laLove, „belässt es nicht beim Zuspitzen“ (ebd.). Kram führt weiter aus: „Ein Argument ist dann falsch, wenn es nicht argumentiert, sondern behauptet, wenn es so tut, als ob man sich mit der Annahme seiner Unrichtigkeit gar nicht beschäftigen muss. Aber es ist nicht nur die Wortwahl rund um den Vorwurf vermeintlicher ‚Sprechverbote‘, der Pose des ‚das wird man doch wohl endlich mal sagen dürfen‘, mit der sich Patsy hier verirrt, es ist das Prinzip dahinter: Ein Populismus, der nicht zuspitzt, sondern verzerrt.“ (Ebd.)

Ich bin durchaus anderer Auffassung als Kram, was die Notwendigkeit eines Populismus betrifft. Meiner Ansicht nach ist es eher sinnvoll, Komplexität (von Gesellschaft, aber auch von wissenschaftlichen Zusammenhängen) in verständlicher Sprache zu erläutern und auf diese Weise zu überzeugen und Mitstreitende zu gewinnen. Ich denke gar, dass man sich bereits davon entfernt, wirklich zu überzeugen und demokratisch zu verhandeln, wenn man sich in populistische – und damit überrumpelnde – Sprechweisen begibt. In dem Punkt, wie eine Argumentation und eine Kritik aussehen sollte, teile ich aber seine Auffassung: Man muss der_dem Gegenüber erst einmal ihr_sein Argument lassen, um sich damit auseinandersetzen zu können.

Wie „Beißreflexe“ agiert, durfte ich – gemeinsam mit meinem Freund und Mitautor Zülfukar Çetin – direkt nachvollziehen. Verzerrung und Verleumdung nehmen die Worte. Was soll man erwidern, wenn einer_einem die Aussage unterstellt wird: „Küssen sich Schwule in der Öffentlichkeit, dominieren sie mit ihrer Homosexualität alles andere. Öffentliches Schwulsein lässt keinen Raum mehr für die Entfaltung nichtschwuler Lebensformen.“ (2) So was sollen wir gesagt haben? Statt sich offen – und gern kritisch – mit unserer Argumentation auseinanderzusetzen, dass es wichtig ist, sich mit Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Kolonialismus in schwulen Kontexten und im Konzept der Homosexualität zu befassen und damit offenere und diskriminierungsärmere Homosexualität_en zu entwickeln, wird uns unterstellt, wir hätten etwas gegen sich küssende schwule Männer. Was für ein Quatsch. Nur wie wehrt man sich dagegen adäquat, wenn einer_einem bei einer Gegenwehr sogleich ungerechtfertigte „Beißreflexe“ unterstellt werden?

Kritik und Diskussion benötigen wir – das ist klar. Es muss um den richtigen – und nicht den rechten – Weg gerungen werden. Es gilt, in den Szenen gerade so zu arbeiten, dass ein solcher Zustand, wie er in Frankreich zur Präsidentschaftswahl erreicht wurde, verhindert werden kann: In Frankreich wählten auch 40 bis 50 Prozent der Schwulen die faschistische Partei, den Front National. Die dortige Entwicklung ist ein Resultat davon, dass sich die Faschist_innen nicht in Größenordnung gegen die Rechte sexueller und geschlechtlicher Minderheiten gewendet haben und sie damit auch dort mit ihren simplen Antworten verfängt. Die deutsche rechtsextreme AfD positionierte sich hingegen von Anfang an und klar gegen LSBTIQ* – und stößt damit auch diejenigen unter ihnen ab, die sie sonst möglicherweise wählen würden. Das ist ein Glück und so haben wir die Gelegenheit, auch ‚unter uns‘ zu arbeiten, damit wir insgesamt besser verstehen, wie Rassismus und Antisemitismus wirken, wie sie ausgrenzen und Gewalt darstellen. Das wäre notwendig.

Der Band „Beißreflexe“ liefert hierzu keinen Beitrag. Er ist ein Trauerband, in dem weiße junge Menschen, oft durch ein Studium privilegiert, die Vorteile einer Welt ohne Kritik, die sich auf sie richtet, propagieren. So kritisieren vornehmlich Cis-Männer – also solche, die nie in ihrer Geschlechtlichkeit in Frage standen – feministische Errungenschaften wie Frauenräume oder eben auch FLT-Schutzräume, weil sie ausschließend seien. Bereits der erste inhaltliche Beitrag, derjenige von „anonyma“ zu einer Situation auf dem e*camp im Jahr 2013 beschreibt die Zurücksetzung eines Mannes. Die Position der Gegenseite kommt nicht zu Wort: Von ihr hätte man erfahren können, dass zwei Cis-Männer eben bei dem e*camp deutlich den FLT-Rückzugsraum kritisierten und als Ausgleich einen „Wichsraum“ forderten. Auf einem großen Gelände beharrten jene zwei Männer etwas später darauf, unbedingt neben dem Partyzelt lesen zu wollen, so dass dort die Musik leiser gemacht werden sollte, anstatt sich einfach 200 Meter weiter weg zu setzen – auf einem tatsächlich sehr großen Gelände. Auch andere Festivals, wie das Göttinger Antifee-Festival, kommen im Band nicht gut weg. Das müssen sie auch nicht – aber mehrstimmige Erörterungen hätten dem Band gutgetan, weil die versammelten Beiträge damit nicht zu einseitig abrechnenden Schwurgerichten würden.

Aus meiner Sicht gute linke Selbstverständlichkeiten, die zum Beispiel die gesellschaftlichen Zustände dafür kritisieren, dass, obwohl unter den Jugendlichen in Hannover etwa 40 % einen Migrationshintergrund haben, nur rund 5 % der Studierenden einen Migrationshintergrund haben, unter den wissenschaftlichen Mitarbeiter_innen sind es noch weniger; in der Stadtverwaltung, in der Sozialen Arbeit, in LSBTIQ*-Projekten Hannovers sind People of Color ebenfalls kaum vertreten – und Hannover ist hier kein Einzelfall. In linken Kontexten – auch in solchen der Dominanzkultur – wurden diese Zustände zunehmend deutlich als Teil eines Rassismus (eines institutionalisierten Systems, das auf die Erhaltung weißer Vorherrschaft zielt – vgl. [3]) gesehen und wurde (und wird) gegen Rassismus und Antisemitismus gestritten. Im Band „Beißreflexe“ wird dieses Streiten gegen Rassismus und Antisemitismus hingegen als „Identitätspolitik“ denunziert; Politiken, die gerade darauf zielen, die durch Rassismus entstehenden Ungleichgewichte im Akademiebetrieb dadurch anzugehen, dass darauf geachtet wird, auch die Bücher und den Aktivismus der rassistisch und antisemitisch Marginalisierten insgesamt zur Kenntnis zu nehmen, werden im Band als Benachteiligung der weißen junge Leute beschrieben und erlebt. Dass für den Band „Beißreflexe“ kaum People of Color gewonnen werden konnten, wird vom Herausgeber im Siegessäule-Interview mit Jan Noll so abgetan, dass er „weder Herkunft noch Hautfarbe noch sexuelle Orientierung oder Geschlecht bei den AutorInnen abgefragt“ habe (4). Die Forderung, dass auch von Rassismus und Antisemitismus Betroffene zu Wort kommen müssten, wird im gleichen Interview als „überformte Betroffenheitspolitik“ zurückgewiesen und in die Ecke gestellt, selbst rassistisch zu sein. So richtet man sich dauerhaft in den nahezu ausschließlich von Leuten der christlich-atheistischen Dominanzkultur angeeigneten Akademien und lukrativen und prestigeträchtigen gesellschaftlichen Positionen ein – und stellt Rassismus und Antisemitismus nicht mehr in Frage.

Mit einer Anmerkung zu den Thematisierungen von antimuslimischen Rassismus im Band möchte ich langsam zum Abschluss dieses Blogposts kommen. In einem Beitrag – dem von Jann Schweitzer – wird etwa die folgende Position einer muslimischen Vereinigung deutlich kritisiert: „Ausgehend von den Aussagen des Korans gibt es unter muslimischen Gelehrten den Konsens, dass homosexuelle Handlungen theologisch als Sünde zu betrachten sind. […] Ob wir etwas gutheißen oder nicht, wird und kann die Freiheit des Einzelnen in keiner Weise beschränken. Für uns handelt hier jeder Mensch eigenverantwortlich und wird im Jenseits – dies ist fester Bestandteil unserer islamischen Glaubensvorstellung – vor seinem Schöpfer für sein gesamtes Handeln Rechenschaft ablegen müssen.“ (S. 215 in [2]; zitiert wird hier der Deutschsprachige Muslimkreis) Die Kritik von Schweitzer orientiert darauf, dass sich zeige, an Glaubens- und Moralvorstellungen festhalten zu wollen. Aber: Egal ob Christentum, Judentum oder Islam – es handelt sich um Schriftreligionen, in denen eine überlieferte Schrift (bzw. ein Wort „Gottes“) zentral gesetzt wird. Das bedeutet auch, dass diese Religionen mit dieser Schrift umgehen und es gerade darum geht, sie zeitgemäß zu interpretieren. Das sieht dann etwa so aus, dass Menschen zugesprochen wird, eigenverantwortlich das tun zu können, was sie für richtig halten – und sich schließlich vor „Gott“ zu verantworten. Was sollen sie noch tun – „Gottes“ Wort umschreiben? Für eine linke Religionskritik wäre es notwendig, sich erst einmal gründlich mit Religion zu befassen und zum Beispiel den Bindestrich zu verstehen, der aus gutem Grund in der Fachdebatte gesetzt wird und „christlich-atheistisch“ verbindet. Daneben entsteht auch Raum, von „jüdisch-atheistisch“ und von „muslimisch-atheistisch“ zu schreiben.

Der Band ist die vielen Worte wert, gerade deshalb, weil er – und das wurde auf Twitter und auf Blogs deutlich – die Personen in einer Massivität attackiert, verleumdet und ihre Positionen verzerrt darstellt, die in der LSBTIQ*-Community am schwächsten sind. (Das sind gewiss nicht Zülfukar und ich – mit Professur lässt sich eine Menge aushalten.) Anstatt dass sich gerade größere – schwule – Gruppen für die Marginalisierten einsetzen, wurde alles, was Personen, die sich als in der Szene marginalisiert wahrnehmen, als „bösartig“ und „Beißreflex“ abgetan. Genau das könnte dafür sprechen, dass Schutzräume auch in „der Community“ nötig sind, weil „die Community“ offenbar nicht so homogen ist, sondern sich bei genauerer Betrachtung zahlreiche Spaltungen, Diskriminierungs- und Gewaltverhältnisse zeigen. Diese zu reflektieren – da waren wir vor dem Band „Beißreflexe“ weiter. Immerhin bietet der aktuelle Diskussionsstand die Möglichkeit, Verwerfungen genauer zu analysieren – und neue Bündnisse zu schmieden, die solidarisch sind und intersektional gegen Diskriminierungs- und Gewaltverhältnisse streiten, sich also nicht nur auf geschlechtlich-sexuelle Diskriminierungen und Gewalt beziehen, sondern gleichermaßen Rassismus und Antisemitismus sowie Klassenverhältnisse angehen.

Update 23.6.2017: Da die Frage bzgl. des Genderns von Patsy l’Amour laLove aufkam: Ich habe laLove bisher einmal wissentlich zur Kenntnis genommen, bei einer Veranstaltung im Waldschlösschen zur Auseinandersetzung um Schwulenbewegung und Pädophilie, die im Februar 2016 stattfand - da hat laLove sehr deutlich gemacht, mit "er" angesprochen werden zu wollen. Es war laLove dort sogar sehr wichtig als "er" bezeichnet zu werden. Zudem beschreibt sich laLove im Autor_innenverzeichnis im Buch "Beißreflexe" u.a. als "Referent[!] des LGBTI-Referats an der HU Berlin". Der Hass den laLove gegen Trans*-Leute verbreitet, hat mich dazu veranlasst, nicht weiter nachzufragen.

Heinz-Jürgen Voß

Verweise:
(1) Kram, Johannes (2017): Mein Problem mit Patsy l’Amour laLove. Ein Widerspruch. Online.
(2) laLove, Patsy l’Amour (2017, Hg.): Beißreflexe. Berlin: Querverlag.
(3) Sow, Noah (2009): Deutschland Schwarz weiß: Der alltägliche Rassismus. München: Goldmann.
(4) Noll, Jan (2017): SIEGESSÄULE-Chefredakteur Jan Noll diskutierte mit Patsy l'Amour laLove. Online.

4 Gedanken zu „Die Kritik in „Beißreflexe“ hat keinen intellektuellen Biss, sondern will nur verletzen. Eine Auseinandersetzung mit dem aktuellen Diskussionsstand.

  1. Pingback: Mädchenmannschaft » Blog Archive » Prostituierten“schutz“gesetz, Thunder Thighs und #BlackLivesMatterBerlin

  2. Pingback: Beitrag: „Die Kritik in „Beißreflexe“ hat keinen intellektuellen Biss, sondern will nur verletzen. Eine Auseinandersetzung mit dem aktuellen Diskussionsstand.“ | ZtG – Blog

  3. Pingback: Je böser, desto mehr freu’n sich die Leut’! | Ruhrbarone

  4. Pingback: Beissreflexe: Je böser, desto mehr freu’n sich die Leut’! | Ruhrbarone

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Warning: Undefined variable $language in /var/customers/webs/verqueert/wordpress/dasendedessex/wp-content/plugins/dsgvo-all-in-one-for-wp-pro/dsgvo_all_in_one_wp_pro.php on line 4465