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‚Der Mann‘ und Männlichkeiten in ihrer Einbindung in Herrschaftsverhältnisse

Zuerst veröffentlicht und zitierbar als: Voß, Heinz-Jürgen (2014): 'Der Mann' und Männlichkeiten in ihrer Einbindung in Herrschaftsverhältnisse. Swissfuture, 1 (2014): 29-31. Hier als pdf-Datei.

 

‚Der Mann‘ und Männlichkeiten in ihrer Einbindung in Herrschaftsverhältnisse
Heinz-Jürgen Voß

Bei der Frage nach „der Zukunft des Mannes“ muss man sich allererst fragen: Wer ist denn eigentlich ‚der Mann‘. Wo kommt er her? ‚Der Mann‘, wie er auch heute – noch immer, bei allen Veränderungen – verhandelt wird, stellt lediglich ein geronnenes Ideal dar. Gefüllt mit vielfältigen Vorstellungen, ist dieses Konzept der bürgerlichen Gesellschaft stets labil gewesen und wurde nur einigermaßen fest in ein Herrschaftssystem aus Rassismus, Geschlecht und Klasse eingewoben. Gleichwohl scheint es zunehmend an seiner Grundanlage zu scheitern: Die vielfältigen Lebensweisen, die individuellen Unterschiede in Merkmalen, in ‚Stärken‘ und ‚Schwächen‘ scheinen sich immer schwieriger in das klare Muster ‚Mann‘ fügen zu wollen. Heute ist von Flexibilisierung und Individualisierung der Lebensweisen die Rede, es wird von der Pluralform, von ‚den Männlichkeiten‘ statt ‚der Männlichkeit‘, gesprochen. ‚Der Mann‘, erst durch Kategorisierung und Kanonisierung bestimmter Merkmale (beim Weglassen anderer) und durch Disziplinierung und Zurichtung hergestellt, scheint zu verschwinden. Die Veränderung passt gut zu den sich wandelnden Anforderungen des im globalen Norden stärker dienstleistungsorientierten Kapitalismus.

Aufgekommen ist ‚der Mann‘ mit der modernen bürgerlichen, der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Als es darum ging, ob auch Frauen, Juden, Menschen aus dem Proletariat und die Kolonialisierten Menschenrechte erhalten sollten, blieb eine Personengruppe unbenannt, für die diese Rechte nicht in Frage stand. Es waren die weißen und bürgerlichen europäischen Männer. Ihre privilegierte Position in der Gesellschaft, ihre öffentliche Präsenz, ihre Werte präg(t)en in besonderem Maße die modernen Gesellschaften und füll(t)en – gerade in Abgrenzung gegenüber anderen Menschen – die Vorstellung davon, was denn ‚der Mann‘ sei.

Von daher ist es bedeutsam, zunächst über die Abgrenzungen zu sprechen. Sie lassen sich ab dem späten 15. Jahrhundert zeigen. Mit dem von Europa ausgehenden Kapitalismus, der erst über die Kolonialisierung der übrigen Welt möglich wurde,[1] ist auch die Differenzierung der Menschen in Gruppen verbunden. Zentral ist die rassistische Unterteilung: So führte die Reconquista – die gewaltsame Durchsetzung des Christentums in Spanien durch die Beseitigung des letzten Kalifats – im Jahr 1492 zur Entrechtung und Vertreibung bzw. zur Zwangsbekehrung der Muslim_innen und Jüd_innen durch die Christ_innen. Den so durch Gewalt gewonnenen ‚Neu-Christ_innen‘ vertraute die christliche Obrigkeit im Folgenden aber nicht, sondern suchte sie von wichtigen Positionen auszuschließen. Wie aber ‚Neu-‘ und ‚Alt-Christ_innen‘ erkennen und unterscheiden? Hier taucht der Begriff ‚Rasse‘ auf und wird nach und nach inhaltlich gefüllt und als Herrschaftsverhältnis etabliert. (Vgl. ausführlich Çetin 2012: 28ff.) Auch bei der Kolonialisierung der übrigen Welt durch Europa ist ‚Rasse‘ zentral. Mit rassistischen Unterscheidungen wurde gerechtfertigt, dass einige Menschen als Arbeitskräfte ausgebeutet und sogar versklavt werden dürften, während andere von ihrer Arbeit profitierten – die Auswirkungen des Kolonialismus, auch mit intensiver und schon früher (Anfang des 16. Jahrhunderts) Beteiligung des deutschsprachigen Raums, machen eindrücklich Martha Mamozai im Band „Schwarze Frau, weiße Herrin“ (Mamozai 2989 [1982]) und May Opitz (Ayim) in „Farbe bekennen“ (hg. von Oguntoye et al. 1997 [1986]) deutlich.

In Europa selbst wurden ebenfalls Menschen in Manufakturen gezwungen. Auch hier ging es zunächst keineswegs um die Anwerbung ‚freier Lohnarbeitender‘, sondern wurden Menschen in diese Arbeitsstätten verschleppt. Der Sozialhistoriker Jürgen Kuczynski beschreibt: „Viele Manufakturen wurden der Zweckmäßigkeit halber gleich als Strafanstalten bevölkert und vor allem mit arretierten und zu Zwangsarbeit verurteilten Bettlern und Bettlerinnen aufgebaut. [...] Im Zuchthaus mußten Irre, Bettler, Schwachsinnige, Diebe, Ehebrecher, Kindesmörderinnen, erziehungsbedürftige Kinder und widerspenstige Dienstboten gemeinsam für die Unternehmer Wolle spinnen, Seide haspeln sowie Färbholz raspeln und schaben.“ (Kuczynski 1963: 22f) Auch die Armenhäuser waren ähnliche Zwangsanstalten, heute sind vielfach so genannte ‚Behindertenwerkstätten‘ Zwangseinrichtungen. Dass bestimmte Menschen – schließlich die Arbeiterklasse – arbeiten sollten, während andere davon profitierten, erfolgte insbesondere durch Zuschreibungen ‚natürlicher‘ Merkmale. Diese Menschen seien nicht fähig zu den privilegierten, den Führungsaufgaben in der Gesellschaft. Gleichzeitig wird die Verwobenheit von Rassismus und Klassenverhältnissen deutlich.

Aber selbst den privilegierten weißen bürgerlichen europäischen Frauen, die ansonsten z.B. bei der kolonisatorischen Ausbeutung und Unterdrückung den privilegierten Männern in nichts nachstanden (vgl. Mamozai 1989 [1982]; Mamozai 2000 [1990]), wurde in zunehmenden Maß der Zugang zu wichtigen gesellschaftlichen Positionen verwehrt. So wurden sie etwa von den sich um 1800 herausbildenden modernen Wissenschaften vollständig ausgeschlossen. In den wissenschaftlichen Disziplinen wurde, ebenfalls auf Basis biologisch-medizinischer Argumentationen der ‚Natürlichkeit‘, Frauen Inferiorität attestiert und auf dieser Basis ihre zurückgesetzte Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft begründet.

Die weißen bürgerlichen europäischen Männer bleiben bei den Ausschlüssen ‚der Anderen‘ die Ungenannten. Gleichzeitig ist zunächst noch kein Ideal ‚des Mannes‘ geronnen, in dem bestimmte Merkmale katalogisiert und als ‚Norm‘ festgeschrieben wären. Das geschieht mit der im 19. Jahrhundert aufkommenden Militärstatistik. Michel Foucault beschreibt eindrucksvoll, wie Bevölkerungspolitiken moderne Staaten und Regierungsweisen insbesondere seit dem 19. Jahrhundert ausmach(t)en. In den nationalen Politiken galt es zunehmend als wichtig, eine große und reproduktive Bevölkerung (mit bestimmten Merkmalen)[2] zu haben. Sie galt als Ausdruck der Stärke des Staates und auch seiner militärischen Leistungsfähigkeit. Zur Wehrpflicht, die zunächst in Frankreich eingeführt und dann in zahlreichen europäischen Staaten durchgesetzt wurde, sollte die gesamte männliche Bevölkerung herangezogen werden. Gleichzeitig sollte die Gesundheit der Rekruten geprüft werden. So wurden einerseits demographische Erhebungen nötig, damit auch kein Mann dem Militär entging (gerade wenn er arm war), andererseits wurden bei der medizinischen Untersuchung – der Musterung – statistische Daten zu physischen Merkmalen und dem Gesundheitszustand erhoben. Und das Militär etablierte sich – in Abgrenzung zum Weiblichen – als der männliche Ort schlechthin. Selbstverständlich kamen auch hier zunehmend Möglichkeiten auf, mit denen privilegierte Bürgerliche ihre Kinder vom Wehrdienst befreien konnten, etwa indem sie einen ‚Ersatz‘ schickten (einkauften) bzw. teilweise bereits bei der Geburt eine ‚Versicherung‘ abschließen konnten, die das Kind vom Wehrdienst befreite. Für eine bürgerliche Mittelschicht[3] stellte das Militär hingegen angesehene (Führungs-)Positionen bereit. (Vgl. ausführlich Hartmann 2011.)

Die Idealvorstellung davon, was ein Mann sein könnte, die sich in den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft lediglich aus Zuschreibungen von Privilegien speiste und ggf. mit künstlerischen Körperproportionen in Verbindung stand (vgl. Peters 2010), wurde durch die Vermessung der Bevölkerung zur kategorisierenden und klassifikatorischen Norm, mit Ansprüchen an physische, physiologische und charakterliche Merkmale. ‚Norm‘ bedeutet dabei (oft) den Mittelwert bezogen auf das jeweils untersuchte Merkmal, wobei von diesbezüglich individuellen Unterschieden abgesehen wird. Ebenso außerhalb des Blicks bleiben andere Kennzeichen, die nicht in den medizinischen Untersuchungen erhoben werden.

‚Der Mann‘ als Resultat der Disziplinierung und Normalisierung bleibt dabei weiterhin mit rassistischen und sexistischen Stereotypen verbunden. Weiß, bürgerlich und europäisch ist er ‚zivilisiert‘ – als ‚triebhaft‘ oder ‚wild‘ gelten den Privilegierten die Männer in den europäischen Fabriken und Bergwerken und insbesondere die kolonialisierten Männer, die als ‚abweichend‘ und ‚anders‘ dargestellt, aber gleichzeitig als erotisch und unwiderstehlich imaginiert werden (vgl. Petzen 2011 [2005]). Bei aller aktuellen Pluralisierung der ‚Männlichkeiten‘ scheint die rassistische Zuschreibung weiter befestigt zu werden; die ‚Männlichkeiten‘ funktionieren gerade über ‚das Andere‘, was mit Zuschreibungen wie ‚unzivilisert‘ und ‚patriarchal‘ belegt und als Ziel europäischer (militärischer) Interventionen konstruiert wird.

 

Literatur und - im Anschluss - Fußnoten:

Balibar, Étienne / Wallerstein, Immanuel (1992 [frz. 1988]): Rasse – Klasse – Nation. Ambivalente Identitäten. 2. Auflage. Hamburg: Argument Verlag.

Çetin, Zülfukar (2012): Homophobie und Islamophobie. Intersektionale Diskriminierungen am Beispiel binationaler schwuler Paare in Berlin. Bielefeld: Transcript Verlag.

Hartmann, Heinrich (2011): Der Volkskörper bei der Musterung: Militärstatistik und Demographie in Europa vor dem Ersten Weltkrieg. Göttingen: Wallstein Verlag.

Kuczynski, Jürgen (1963): Studien zur Geschichte der Lage der Arbeiterin in Deutschland von 1700 bis zur Gegenwart (Die Geschichte der Lage der Arbeiter unter dem Kapitalismus, Bd. 18). Berlin: Akademie Verlag.

Mamozai, Martha (1989 [Erstausgabe 1982]): Schwarze Frau, weiße Herrin: Frauenleben in den deutschen Kolonien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch.

Mamozai, Martha (2000 [Erstausgabe 1990]): Kompizinnen. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch.

Peters, Kathrin (2010): Rätselbilder des Geschlechts – Körperwissen und Medialität um 1900. Diaphenes Verlag: Zürich u.a.

Petzen, Jennifer (2011 [zuerst veröffentlicht 2005]): Wer liegt oben? Türkische und deutsche Maskulinitäten in der schwulen Szene. In: Yılmaz-Günay, Koray (Hg.): Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre ‚Muslime versus Schwule‘. Berlin: Selbstverlag, S.25-45.

Oguntoye, Katharina / Opitz [Ayim], May / Schultz, Dagmar (1997 [Erstausgabe 1986]): Farbe bekennen: Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch.

[1] Kapitalistisches Wirtschaften bedeutet, dass das Kapital und seine Vermehrung vorrangiges Ziel des ökonomischen Handelns ist. Ziel ist Gewinn, der wieder neu angelegt wird, um zusätzlichen Gewinn zu erhalten usw. (Akkumulation). Das heißt, dass es immer neue ‚Anlagemöglichkeiten‘ geben muss, in die das durch den Gewinn angewachsene Kapital gehen kann – nötig ist also die ständig zunehmende Aneignung von Dingen, die von Menschen erzeugt wurden. Während die Akkumulation in anderen geographischen Regionen – z.B. im China und Japan des 14. Jahrhunderts, in Arabien – etwa durch politische Entscheidungen an einem bestimmten Punkt unterbrochen wurde, ermöglichte erst der Kolonialismus den Aufstieg des Kapitalismus zur Weltwirtschaft, mit Europa als Zentrum und den Kolonien als Peripherie.

[2] Die Bildung einer ‚Nation‘ basiert immer auf Ein- und Ausschlüssen und wird damit über rassistische Zuschreibungen und Ausschlüsse erreicht – sehr gut hierzu: Balibar / Wallerstein 1992 (1988).

[3] Dies gilt insbesondere für Frankreich. Im militaristischen Preußen waren die Führungspositionen im Militär vor allem eine Domäne des Adels.

3 Gedanken zu „‚Der Mann‘ und Männlichkeiten in ihrer Einbindung in Herrschaftsverhältnisse

  1. Kim Berra

    Danke für den interssanten Beitrag!
    [...]

    Wahrscheinlich verpasse ich sehr häufig den Punkt, die Kreation des Mannes anhand 'anderer' (meist vor allem 'unechter') Männer zu erfassen, wo doch diese Vorgänge mindestens so sehr ins Gewicht fallen, wie die (selbst)(er)findung des Mannes in der Abgrenzung zur Frau (so eine Zweiermatrix der Geschlechter Bedeutung behalten soll). Obschon ich auch skeptisch bleibe, ob die Schaffung 'des Mannes' so ohne Subjekt (im Sinne von Psyche, Antriebe, Begehren, Selbstbezüge) vonstatten gehen kann.

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  2. Heinz-Jürgen Voß

    Aus meiner Sicht ist der Beitrag sehr klar. Magst du ihn nochmal lesen? Was konkret ist nicht verständlich? Du scheinst 'Psyche' als einfach so Vorgegebenes, unbeeinflusst von Sozialisation, zu sehen. Diese Ansicht teile ich nicht.

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    1. Kim Berra

      Nun, unklar oder unverständlich finde ich den Text nicht, auch nach der zweiten Lektüre nicht.

      Meine Skepsis könnte ich noch mal durch eine überzogenen These ausdrücken: hier wird 'der Mann' selbst gar nicht (im Hinblick auf seine Genese) untersucht, sondern als Beleg für Rassismus, Kapitalismus und ein wenig Geschlecht verwendet. 'Der Mann' sei weiß, bürgerlich, europäisch. Was, wie Du ja sagst, nicht hinhaut, weil sich die konkreten Lebensformen zu sehr und oft davon unterscheiden. Auch ein nicht-weißer, nicht-bürgerlicher und nicht-hetero Mann hängt evt. einem erstarrten Ideal von Männlichkeit hinterher, kann andere zu Anderen machen oder gar hassen. Also kommt das Ganze etwas zu ungenau rüber.

      Ob eine Psyche vorgegeben oder sozialisiert ist, weiß ich nicht, diesen Streit finde ich nicht soo fruchtbar. Ich wollte nur andeuten, dass es leicht wäre zu frage: warum führen Leute eine Reconquista durch? Warum gründen sie Manufakturen? Usw. usf. Warum insbesondere finden Leute andere Leute triebhaft, sich hingegen zivilisiert (als ob das ein Gegensatz wäre)? Da liegt der Verdacht nahe, dass das Ganze etwas mit Antrieben, den eignen Trieben und Begehren zu tun hat. (Um Missverständnissen vorzubeugen: m.E. haben menschliche Triebe und Begehren eben kein festes Ziel, sondern fließen zunächst mal frei. Dadurch wird das Ganze aber erst interessant: wie findet hier Formung/Leitung wohin statt?)

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