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Vor etwas mehr als zwei Jahren ist der Band Geschlecht: Wider die Natürlichkeit erschienen (Band / Besprechungen) und er hat seitdem einige Diskussionen angestoßen, wie ich bei zahlreichen Veranstaltungen mitbekommen konnte. An dieser Stelle möchte ich mich für die sehr guten Diskussionen bedanken - Unterstützung und Widerspruch ermöglichen erst den Weg zu einer emanzipatorischen Gesellschaft! Und es freut mich auch, dass offensichtlich so einige von euch (und Ihnen) den Band einfach nutzen - also das aufnehmen, was jeweils weiterhilft und anderem möglicherweise widersprechen. Genau dafür war und ist der Band gedacht. Nun ist der Band in der 3. Auflage - und ich freue mich auf alles Weitere! Gerechte Gesellschaft machen wir!

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balibar_wallersteinÉtienne Balibar, Immanuel Wallerstein
Ambivalente Identitäten: Rasse, Klasse, Nation

Das bereits vor mehr als 20 Jahren erschienene Buch ist in Zeiten der Krise des Kapitalismus nach wie vor hochaktuell.

Die aktuellen und nicht mehr abebbenden Krisenerscheinungen des Kapitalismus machen dringlich deutlich, wie notwendig es ist, eine gerechte Gesellschaftsordnung zu entwickeln. Marxistische Theorien liefern hierfür eine Basis, die es weiterzuentwickeln gilt, wobei gerade aus den praktischen Fehlern und theoretischen Leerstellen des Ende der 1980er Jahre zusammengebrochenen Staatssozialismus zu lernen ist. Durch die „neue Marxlektüre“ im Anschluss an Michael Heinrichs „Kritik der politischen Ökonomie“ (theorie.org) wurde dieser Lernprozess erheblich befeuert und es zeigt sich in Gesprächen, auf Blogs und in Zeitschriften, wieviele Menschen über Herrschaftsverhältnisse nachdenken und dabei auch verstehen wollen, wie Rassismus, Sexismus und Klassenunterdrückung miteinander verschränkt sind und was die Privilegierten von den Unterdrückten und Ausgebeuteten scheidet.

Einige Publikationen – auch aus den 1980er Jahren – können dem Nachdenken neue Impulse geben. Neben den Arbeiten von Étienne Balibar und Immanuel Wallerstein – von denen eine gemeinsame Schrift im Folgenden vorgestellt wird – sind es gerade die Bücher von Angela Davis, Gayatri Chakravorty Spivak, Kimberlé Crenshaw und Samir Amin, die weitergehende Einsichten versprechen. Sie alle fokussieren Rassismus und Sexismus und ihre Bedeutung für Klassenunterdrückung. Und sie denken global: Nur wenn wir gleichermaßen das kapitalistische Zentrum und die Überausbeutung der Peripherie im Blick haben, wird es uns möglich, Kapitalismus adäquat zu analysieren.

Balibar und Wallerstein untersuchen in „Rasse Klasse Nation: Ambivalente Identitäten“ die Entstehung von Rassismus in den europäischen Staaten und seine Bedeutung. Gab es zuvor regional unterschiedlich immer wieder „Fremdenfeindlichkeit“, so bedeutete Rassismus etwas grundsätzlich Neues und es wurde mit ihm und seinem Aufkommen ab der Reconquista im Jahr 1492 (Balibar, S. 32, 67) die Feindlichkeit gegenüber Menschen wirtschaftlich und gesellschaftlich funktional. Die im Band zusammengestellten Aufsätze, jeweils von einem der beiden Autoren verfasst, geben wichtige Anregungen, um gegen Rassismus streiten zu können, und sie zeigen Diskussionen, die Balibar und Wallerstein – kollegial – untereinander führten, mit dem Ziel, die Verhältnisse verstehen und möglicherweise praktische Antworten entwickeln zu können. weiter bei kritisch-lesen.

geschlechterreflektierte_arbeit_mit_jungen_webDissens e.V. (Hg.):
Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule.
Texte zu Pädagogik und Fortbildung rund um Jungen, Geschlecht und Bildung

In einer gelungenen Zusammenstellung von Beiträgen aus der emanzipatorischen Bildungsarbeit wird nun auch Intergeschlechtlichkeit gut thematisiert.

Um die binäre Geschlechterordnung und ihr Gewordensein reflektieren und Auswege erarbeiten zu können, gehört praktisch orientiertes Material dazu. Davon gibt es bereits einiges – zudem sehr gutes –, das für die Kinder- und Erwachsenenbildung entwickelt wurde. Darin wird die gesellschaftliche Konstruiertheit von Geschlecht und die Konsequenz des massiven Anpassungsdrucks für die Menschen, sich den geschlechterstereotypen gesellschaftlichen Vorstellungen anzugleichen, altersgerecht und praktisch orientiert aufgearbeitet (vgl. für eine Übersicht u.a. die Zusammenstellung des Gender Netzwerks).

Ein vorzügliches neues Material stellt die Broschüre „Geschlechterreflektierte Arbeit mit Jungen an der Schule“ dar. Sie wird im Folgenden vorgestellt, wobei besonders auf einen Beitrag zu Intergeschlechtlichkeit (Intersexualität) hingewiesen wird. Querverweise gehen diesbezüglich auf zwei weitere Broschüren, in denen Intergeschlechtlichkeit ebenfalls thematisiert und in einem Fall gut und in dem anderen schlecht pädagogisch „aufbereitet“ wird. weiter

Gern möchte ich auf die Sendung "Sexualität - wir alle sind Zwitter" von Susanne Billig und Petra Geist bei WDR5, Sendung "Leonardo - Wissenschaft und mehr" hinweisen. Die Autor_innen diskutieren die Vielfältigkeit der Geschlechtsentwicklung, haben aber auch die aktuelle medizinische Gewalt gegen intergeschlechtliche (intersexuelle) Menschen mit im Blick.

Ebenfalls zu Thema:

Angeboren oder entwickelt? Zur Biologie der Geschlechtsentwicklung

Die individuelle und vielfältige Physiologie und Wirkung der „Geschlechtshormone“

und Audio:

Zur gesellschaftlichen Konstruktion von biologischem Geschlecht - Heinz-Jürgen Voß from Schwulenreferat Gießen on Vimeo.

Nachdem in Australien bereits 2011 eine Regelung getroffen wurde, die einen dritten Geschlechtseintrag - X = "unbestimmt", F = "weiblich", M = "männlich" - in Reisepässen erlaubt, hat nun ein Berufungsgericht entschieden, dass auch in behördlichen Formularen nicht eines von zwei Geschlechtern verwendet werden muss. Das Gericht erklärte dabei, "das Wort Geschlecht habe nicht die binäre Bedeutung "männlich" oder "weiblich"". (Spiegel online berichtete am 1. Juni 2013)

Bereits die Änderung im Jahr 2011 sollte insbesondere Zwänge gegen intergeschlechtliche (intersexuelle) Menschen verringern, aber auch für Trans* eine Wahlmöglichkeit eröffnen. In den Regelungen bleibt aber die Medizin weiterhin bestimmende Instanz. Nicht jeder Mensch kann einen Geschlechtseintrag wählen, sondern erst wenn ein_e Ärzt_in eine entsprechende sichere Diagnose gestellt hat. Kritik von Inters*- und Trans*-Selbstorganisationen ist aber gerade die Bedeutung der Medizin: Anstatt gesellschaftlich geschlechtliche Vielfalt zu akzeptieren, würde medizinisch alles durch eine pathologisierende Brille gesehen (vgl. Kritiken Intergeschlechtlicher an einer Regelung im Dt. Bundestag / "Stop Trans*-Pathologisierung").

Gegen medizinische Definitionshoheit ist noch einiges zu tun!

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Zwischengeschlecht.org hat sehr wichtig und richtig darauf hingewiesen, dass bezüglich der Behandlung von intergeschlechtlichen Menschen in der Nazi-Zeit bisher nicht geforscht wurde (Beitrag hier). Aus dem Blick blieb dabei auch, wie Mediziner und Medizinerinnen, die in der Nazi-Zeit Karriere gemacht hatten, diese oft nach 1945 fortsetzen konnten - selbst dann wenn sie direkt in Menschenversuche in Konzentrationslagern verstrickt waren oder in ihren Forschungen direkt von solchen Menschenversuchen profitierten. Zwischengeschlecht.org liefert dankenswerter Weise erste gute Ansätze - gerade auch Namen, auf die ein weiterer Blick lohnt, um tatsächlich den Anteil von ganz konkreten Medizinern und Medizinerinnen an Menschenversuchen in den Blick bekommen und die Biographien aufarbeiten zu können. Auch nach 1945 nahmen einige Medizinerinnen und Mediziner nicht nur schwere Komplikationen bei Geschlechtszuweisungen in Kauf, sondern auch häufige Todesfälle - direkt aufgrund von Infektionen und weiteren Komplikationen der Eingriffe oder solche durch Suizid, weil Menschen die Behandlungen nicht ertrugen. Wissenschaftliche Aufarbeitungen sind dringend nötig - vielen Dank Zwischengeschlecht.org und weitere Beteiligte für die ersten Recherchen!

(Das vielfach NS-Karrieren weitergingen und wie auch Menschenversuche stattfanden, lässt sich auch bzgl. Homosexualität zeigen: Hier wurden bspw. in der BRD der 1960er und 70er Jahre so genannte "stereotaktische Gehirnoperationen" durchgeführt (vgl. dazu im Buch "Biologie & Homosexualität") - auch hier stehen die Aufarbeitungen weitgehend noch aus, gibt es bspw. zu dem Göttinger Protagonisten Fritz Roeder noch keine Biographie.)

In diesem Sinne: Wer ein Thema für eine Diplom- oder Doktorarbeit sucht: Hier ist es dringend. Zumindest rückblickend könnte so eine Entnazifizierung von Wissenschaft betrieben werden.

Im Folgenden ist die Pressemitteilung von Zwischengeschlecht.org vom 15. Mai dokumentiert:

Zwischengeschlecht.org
Menschenrechte auch für Zwitter!

P R E S S E M I T T E I L U N G

Gestern Dienstag reichten in South Carolina die Eltern des mittlerweile 8-jährigen Inters*x-Kindes M.C. Klage ein u.a. gegen die Medical University of South Carolina und individuelle ÄrztInnen wegen Durchführung irreversibler und medizinisch nicht notwendiger Genitaloperationen. Dies ist nach dem "Zwitterprozess" von Christiane Völling von 2007 und dem kommenden Prozess in Erlangen weltweit die 3. Klage gegen Inters*x-GenitalverstümmlerInnen.
Morgen Donnerstag debattiert der Deutsche Bundestag in seiner 240. Sitzung als weltweit erstes Parlament in erster Beratung über 3 Anträge, die ein explizites Verbot von Inters*x-Genitalverstümmelungen fordern sowie eine umfassende Aufarbeitung der menschenrechtswidrigen aktuellen Praxis (TOP 19 a-c).

--> Ausführliche Informationen + Quellen via Weblog Zwischengeschlecht.info

Die Eltern Mark und Pam Crawford reichten die Klage im Namen von M.C. am 14. Mai 2013 nach über 2-jähriger Vorbereitung ein.

Das von den VerstümmlerInnen als "echter Hermaphrodit" klassifizierte Kind M.C. war im Alter von 16 Monaten sog. "feminisierenden Genitalkorrekturen" unterworfen worden, während es sich in staatlicher Pflegeunterbringung befand. Dabei wurde wie üblich gesundes Genitalgewebe ohne medizinische Notwendigkeit weggeschnitten und in den Mülleimer geworfen (Penisentfernung/"Klitorisverkleinerung" plus Entfernung von Hodengewebe). M.C. lebt inzwischen als Knabe.

Die Klage auf Verstoß gegen die US-Verfassung sowie auf Verletzung der medizinischen Berufspflicht wurde gleichzeitig auf Staates- und auf Bundesebene eingereicht.

Die Beklagten haben laut Klage gegen die "Due Process"-Klausel der US-Verfassung verstoßen, in dem sie M.C. "einer medizinisch nicht notwendigen Operation unterwarfen, die M.C.s Körper veränderte und und seine Fortpflanzungsfähigkeit dauerhaft verminderte ohne Mitteilung oder einer Anhörung um sicherzustellen, dass die Behandlung in M.C.s bestem Interesse war".

Es sei nicht ordnungsgemäß über die erheblichen Risiken der Operation aufgeklärt worden oder über die Möglichkeit, darauf zu verzichten. Schlimmer noch, es sei "nicht einmal darüber aufgeklärt worden, dass der Eingriff medizinisch gar nicht notwendig war". M.C. sei durch die Operation "möglicherweise sterilisiert worden und seine s*xuelle Empfindungsfähigkeit in hohem Maße vermindert, wenn nicht gar gänzlich zerstört worden" .

M.C.s Mutter Pam Crawford: "Indem sie diese nicht notwendige Operation durchführten, sagten der Staat und die Ärzte M.C., so wie er auf die Welt kam, er sei nicht akzeptabel und liebenswert. Sie entstellten ihn, weil sie ihn nicht akzeptieren konten, wie er war – nicht, weil er Operationen gebraucht hätte. M.C. ist ein liebreizendes, bezauberndes und widerstandsfähiges Kind. Wir werden nicht aufhören, bis wir Gerechtigkeit erlangen für unseren Sohn."

Die Menschenrechtsgruppe Zwischengeschlecht.org fordert ein Verbot von kosmetischen Genitaloperationen an Kindern und Jugendlichen mit "atypischen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen sowie "Menschenrechte auch für Zwitter!".

Betroffene sollen später selber darüber entscheiden, ob sie Operationen wollen oder nicht, und wenn ja, welche.

Freundliche Grüße

n e l l a
Daniela Truffer
presse@zwischengeschlecht.info

Wider besseres Wissen finden sich heute - es jährt sich das Urteil des Kölner Landgerichts, das im vergangenen Jahr für so viel Kontroverse sorgte - in größeren Tageszeitungen und übrigen Medien weiterhin fehlerhafte Informationen zu den medizinischen Fragen rund um die Vorhautbeschneidung bei Jungen. Daher haben sich Dr. Matthias Zaft und ich (Dr. Heinz-Jürgen Voß) entschlossen, die Publikation eines zur Veröffentlichung vorgesehenen Beitrags vorzuziehen: Der (medizinethische) deutsche Diskurs über die Vorhautbeschneidung.

Während sich der vollständige Beitrag als pdf-Datei unter diesem Link findet, werden im folgenden Auszug - Kapitel 2 des Aufsatzes - insbesondere medizinische und medizinethische Stimmen zur Frage der Vorhautbeschneidung dargestellt und dabei auch personelle Verbindungslinien zwischen juristischem und medizinischem Diskurs nachgezeichnet (die Quellenangaben finden sich in der pdf-Datei; dort wurden auch einige Passagen deutlicher hervorgehoben).

2. Politische und medizinische Reaktionen
Die Reaktionen aus verantwortlichen politischen Kreisen – insbesondere den Bundestagsfraktionen – waren deutlich und unaufgeregt. Im Juli äußert sich Bundeskanzlerin Angela Merkel klar: „Ich will nicht, dass Deutschland das einzige Land auf der Welt ist, in dem Juden nicht ihre Riten ausüben können. Wir machen uns ja sonst zur Komiker-Nation“ (vgl. Spiegel 2012). Selbst Alice Schwarzer, seit den letzten Jahren oft mit rassistischen Positionierungen gegen Muslima aufgefallen, nimmt in dieser Frage eine klare Position für die Religionsfreiheit von Muslim_innen und Jüd_innen ein: „Die Verurteilung der männlichen Beschneidung halte ich für eine realitätsferne politische Correctness.“ Im Weiteren hebt sie die gesundheitlichen Vorteile der Vorhautbeschneidung hervor: „Etwa jeder dritte männliche Mensch weltweit ist beschnitten. Und das nicht nur aus religiösen oder kulturellen Gründen, sondern auch aus hygienischen. Bereits 2007 rieten sowohl die Weltgesundheitsorganisation (WHO) als auch die UN dringend zur Beschneidung von Männern: als Prävention gegen Aids, Peniskrebs und Gebärmutterhalskrebs. Denn letzterer wird verursacht von einem verunreinigten männlichen Penis.“ (Schwarzer 2012)
Wichtige medizinische Kreise zeigten sich von dem Urteil erschüttert. Der Präsident der Bundesärztekammer Frank Ulrich Montgomery beurteilte das Urteil des Kölner Landgerichts als „für die Ärzte unbefriedigend und für die betroffenen Kinder sogar gefährlich“. Der Bundesverband der deutschen Urologen und – in gleichem Wortlaut – die Deutsche Gesellschaft für Urologie erklärte mit ähnlicher Sichtweise wie Montgomery und unter Verweis auf die begrenzte Reichweite des Kölner Urteils:

„Es handelt sich hier um eine sogenannte Güterabwägung, wobei das Gericht in der Urteilsbegründung selbst einräumt, dass auch die gegenteilige Auffassung vertretbar sei. Ein Gericht in München oder Hamburg könnte denselben Sachverhalt also durchaus anders bewerten. […] Endgültige Rechtssicherheit können nur ein höchstrichterliches Urteil oder der Gesetzgeber herbeiführen. […] Bei der Diskussion darüber, ob zukünftig rituelle Beschneidungen durch Ärzte rechtssicher durchgeführt werden können, sollte auch der Aspekt berücksichtigt werden, dass man rituelle Beschneidungen durch Gerichtsurteile in Deutschland nicht einfach abschaffen kann. Damit besteht die konkrete Gefahr, dass rituelle Beschneidungen vermehrt von medizinischen Laien durchgeführt werden.“ (DGU 2012, Juli) Weiterlesen » » » »

In den vergangenen Wochen und Monaten war vermehrt von "Männerrechtlern" zu vernehmen, dass gegen Vorhautbeschneidung vorgangen werden müsse. Es wurden Gleichsetzungen mit den traumatisierenden und gewaltvollen medizinischen Eingriffen, die sich gegen intergeschlechtliche Menschen richten, betrieben. Vorher hatte sich niemand von den nun selbsternannten "Beschneidungsgegnern" mit Intergeschlechtlichen solidarisiert - und noch nicht einmal jetzt ist das der Fall.

So kritisiert die Gruppe Zwischengeschlecht.org, dass zur heutigen Demonstration in Köln Intergeschlechtliche mal eben wieder "vergessen" wurden. Sie schreibt unter anderem: "Intersex-Genitalverstümmelungen werden nirgends konkret erwähnt, noch wurden Intersex-Betroffenenorganisationen informiert oder eingeladen. Zwischengeschlecht.org bedauert dies und ruft die beteiligten Organisationen dazu auf, künftig auch Intersex-Genitalverstümmelungen angemessen zu berücksichtigen, und insbesondere die langjährige Hauptforderung der Betroffenen nach einem gesetzlichen Verbot von medizinisch nicht notwendigen, kosmetischen Genitaloperationen an Kindern mit "atypischen" körperlichen Geschlechtsmerkmalen aktiv zu unterstützen! Umso mehr, als übernächsten Donnerstag 16.05.2013 im Bundestag drei konkrete Anträge beraten werden, die explizit ein Verbot von Intersex-Genitalverstümmelungen fordern und von Zwischengeschlecht.org und weiteren Betroffenenverbänden ausdrücklich befürwortet werden (17/13253, 17/12851 und 17/12859)." (Pressemitteilung Zwischengeschlecht.org, Hervorhebungen ausgelassen)

Gleichzeitig kritisiert Zwischengeschlecht.org, dass unter den Beteiligten der Demonstration sogar diejenigen seien, die die geschlechtszuweisenden Eingriffe gegen intergeschlechtliche Menschen vornehmen. So sei der "Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte (BVKJ)" beteiligt, deren Mitgliedsverband, die "'Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ)' z.B. kosmetische 'Klitorisverkleinerungen', und 'Vaginalerweiterungen' an wehrlosen Kleinkindern 'in Deutschland im ersten Lebensjahr' [fordert] (AWMF-Leitlinie 027/047 'Adrenogenitales Syndrom', vgl. ebenso AWMF-Leitlinie 027/022 'Störungen der Geschlechtsentwicklung'). Und Mitglieder der beim BVKJ angeschlossenen 'Vereinigung Leitender Kinderärzte und Kinderchirurgen Deutschlands (VLKKD)' propagieren und praktizieren komplikationsträchtige kosmetische 'Hypospadiekorrekturen' an wehrlosen Kleinkindern explizit 'auch aus ästhetisch-psychologischen Gründen' (AWMF-Leitlinie 006/026 'Hypospadie')." (ebd., Hervorhebungen ausgelassen)

"Männerrechtler" stellen nicht die medizinische Definitionshoheit in Frage - sie wollen genau diese Definitionsmacht! Und auch die beteiligten Ärzte verfolgen andere Interessen als die Selbstorganisationen der Intergeschlechtlichen. Würden sie die eigene Definitionsmacht in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit in Frage stellen, würden sie eigenes Prestige und eigene Verdienstmöglichkeiten aufgeben müssen. Das wäre für weiße Männer dann wirklich zuviel...

Im Herbstprogramm des Schmetterling-Verlags erscheint das Buch "Queer und (Anti-) Kapitalismus", von Heinz-Jürgen Voß & Salih Alexander Wolter, ISBN 3-89657-061-7 .
Die Vorankündigung beim Verlag findet sich hier.

Klappentext:
Die ‹Erfolgsgeschichte› der bürgerlichen Homo-Emanzipation in den westlichen Industriestaaten während der letzten Jahrzehnte fällt mit der neoliberalen Transformation der Weltwirtschaft zusammen. Während vor allem weiße schwule Männer Freiheitsgewinne verbuchen, kommt es zu einem entsolidarisierenden Umbau der Gesellschaft, verbunden mit zunehmend rassistischen Politiken im Innern; zugleich dient der ‹Einsatz für Frauen- und Homorechte› als Begründung für militärische Interventionen im globalen Süden. Dabei waren es schon 1969 in der New Yorker Christopher Street «[S]chwarze und Drag Queens/Transgender of colour aus der Arbeiterklasse», die den Widerstand gegen heteronormative Ausgrenzung und Gewalt trugen und «sich in Abgrenzung zu weißen Mittelklasse-Schwulen und [-]Lesben ‹queer› nannten, lange bevor deren akademische Nachfahren sich diese Identität aneigneten» (Jin Haritaworn). Doch auch hierzulande sind es die queer People of Color, die aktivistisch wie theoretisch gesamtgesellschaftliche Perspektiven jenseits des gängigen Homonationalismus entwickeln.
Im Band betrachten wir die aktuell viel diskutierten Ansätze einer ‹queer-feministischen Ökonomiekritik› vor dem Hintergrund queerer Bewegungsgeschichte. Wir zeigen mögliche Verbindungen zum ‹westlichen Marxismus› Antonio Gramscis, zum postkolonialen Feminismus Gayatri Chakravorty Spivaks, zu den ‹Eine-Welt›-Konzepten von Immanuel Wallerstein und Samir Amin auf. Wegweisend ist für uns ein intersektionales Verständnis, wie es Schwarze Frauen und queere Migrant_innen in der Bundesrepublik bereits seit den 1980er Jahren erarbeitet haben. Uns interessiert in diesem Band, wie Geschlecht und Sexualität – stets verwoben mit Rassismus – im Kapitalismus bedeutsam sind, sogar dort erst aufkommen oder funktional werden. Theoretisch, historisch und immer mit Blick auf Praxis untersuchen wir die Veränderungen der Geschlechter- und sexuellen Verhältnisse der Menschen unter zeitlich konkreten kapitalistischen Bedingungen. Wem nützen die geschlechtlichen und sexuellen Zurichtungen der Menschen im Kapitalismus, und was lässt sich aus den historischen und aktuellen Kämpfen für queere Kapitalismuskritik lernen?

Schlagworte:
Queer, Geschlecht, Sexualität, Rassismus, Kapitalismus, Antonio Gramsci, Gayatri Chakravorty Spivak, Samir Amin, Jacques Derrida

Biographische Notizen:
Heinz-Jürgen Voß ist antirassistisch und queer-feministisch politisch aktiv und arbeitet u. a. zu Queer & Kapitalismuskritik und zu biologisch-medizinischen Geschlechtertheorien. 2010 promovierte er_sie zur «Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive». Im Schmetterling-Verlag ist bereits sein_ihr Band «Geschlecht: Wider die Natürlichkeit» erschienen.
Salih Alexander Wolter engagiert sich aktivistisch und publizistisch gegen Rassismus und für eine linke Queerpolitik. Beiträge u. a. in dem von Koray Yılmaz-Günay herausgegebenen Reader «Karriere eines konstruierten Gegensatzes: zehn Jahre ‹Muslime versus Schwule›» (2011, Neuausgabe 2013). Gemeinsam mit Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß Autor des Bandes «Interventionen gegen die deutsche ‹Beschneidungsdebatte›» (2012).