In Reaktion auf die Beschlüsse des Deutschen Ärztetages hat das von Kinder- und Jugendärzt*innen dominierte Bündnis Kinder- und Jugendgesundheit e.V. eine Stellungnahme veröffentlicht.
Die Beschlüsse des Deutschen Ärztetages gegen die Anwendung von Pubertätsblockern bei Jugendlichen und gegen die Veränderung der behördlichen Papierform (Geschlechtseintrag) haben gesellschaftlich für Aufregung gesorgt. Die hier etwas schnell agierende, flatterhafte CDU-Fraktion im Bundestag hat sogleich einen Antrag zur Veränderung des Selbstbestimmungsgesetzes veranlasst, um für Jugendliche die Selbstbestimmung einzuschränken. Daher hier schon eine erste kurz eine Einordnung:
Die Beschlüsse des Deutschen Ärztetages widersprechen den weltweiten medizinischen Übereinkünften der Ärzteschaft. Die World Medical Association hält in ihrem "Statement on Transgender People" fest:
"The WMA emphasises that everyone has the right to determine one’s own gender and recognises the diversity of possibilities in this respect. The WMA calls for physicians to uphold each individual’s right to selfidentication with regards to gender." ("Die WMA betont, dass jeder Mensch das Recht hat, sein Geschlecht selbst zu bestimmen, und erkennt die Vielfalt der Möglichkeiten in dieser Hinsicht. Die WMA fordert die Ärzt*innen auf, das Recht jedes Einzelnen auf Selbstbestimmung des Geschlechts zu wahren.")
WMA Statement on Transgender People
In Reaktion auf die Beschlüsse des Deutschen Ärztetages hat das von Kinder- und Jugendärzt*innen dominierte Bündnis Kinder- und Jugendgesundheit e.V.eine Stellungnahme veröffentlicht. Diese argumentiert auf Basis der aktuellen Evidenz - anders als die rasch gefassten Beschlüsse des Deutschen Ärztetages, die ohne jede Literaturverweise auskommen - und kommt zu der Ableitung:
"Transidente Kinder und Jugendliche haben ohne Behandlung eine erhöhte psychische Morbidität und erleiden häufiger Diskriminierung und Gewalt. Medizinische Maßnahmen, die Pubertätsblockade, geschlechtsangleichende Hormontherapie, Psychotherapie und eine chirurgische Behandlung einschließen können, steigern ihr Wohlergehen in ihrem selbstgewählten Geschlecht. Ihre Lebensqualität ist höher, und sie haben zumindest mittelfristig eine geringere assoziierte psychische Morbidität. Daher kann eine solche Behandlung ethisch gerechtfertigt sein. Die langfristigen Ergebnisse bedürfen dringlich der weiteren Erforschung. Die ethische Bewertung muss mit wachsender Studienlage stets aktualisiert werden. Voraussetzung für die Behandlung ist eine interdisziplinäre Beratung der Betroffenen und ihrer Sorgeberechtigten und eine größtmögliche Sicherheit, dass die Entscheidung mit ausreichender Reife selbstbestimmt erfolgte."
KJG (2024): Ärztliche Maßnahmen bei transidenten Kindern und Jugendlichen
Weitere Stellungnahmen sind derzeit in Vorbereitung. Es ist für die Ärzt*innenschaft blamabel, dass - ohne jegliche Evidenz und ohne jegliche Literaturverweise - so weitreichende Beschlüsse gefasst werden. Sie widersprechen dem Hippokratischen Eid und dem Genfer Gelöbnis, die beide zu Sorgfalt in der Bearbeitung von Themen mahnen und darauf orientieren, Menschen - auch jungen Menschen - zu nützen und nicht zu schaden.
Heinz-Jürgen Voß, Merseburg, Professur für Sexualwissenschaft und Sexuelle Bildung
Im November 2021 finden drei Fachtage zu Trans*, Inter* und Non-Binarität in (a) pädagogischen Berufen, (b) Gesundheitsberufen, (c) in Verwaltung und Polizei statt. Interessierte sind herzlich eingeladen.
gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ist es der Hochschule Merseburg möglich, im November 2021 drei hochkarätig besetzte Fachtage zu Trans*, Inter* und Non-Binarität in verschiedenen beruflichen Feldern auszurichten. Die Fachtage richten sich an Fachkräfte, Entscheidungsträger*innen, Studierende/Auszubildende und weitere Interessierte. Sie zielen einerseits auf den fachlichen Austausch, andererseits auf die Weiterentwicklung der jeweiligen Curricula der Aus-, Fort- und Weiterbildung.
Information und Anmeldung zu den Fachtagen:
(1) Fachtag Geschlechtergerechte Pädagogik in universitären und schulischen Kontexten Datum: 8.11.2021, findet online statt Informationen: https://www.hs-merseburg.de/tinpaedagogik/
(2) Fachtag Geschlechtersensible und leitliniengerechte medizinische Versorgung und Pflege von trans-, intergeschlechtlichen und non-binären Personen Datum: 22.11.2021, findet online statt Informationen: https://www.hs-merseburg.de/tingesundheit/
(3) Fachtag Geschlechtergerechte Begleitung von trans-, intergeschlechtlichen und non-binären Personen durch Verwaltung und Polizei Datum: 30.11.2021, findet online statt Informationen: https://www.hs-merseburg.de/tinverwaltung-polizei/
Interessierte insbesondere aus den Berufsgruppen, aber auch darüber hinaus, sind herzlich eingeladen! Für Fragen ist das Vorbereitungsteam gern erreichbar, unter Mail: heinz-juergen.voss@hs-merseburg.de .
Der gebürtig Westberliner Salih Alexander Wolter rezensiert in den "Rosigen Zeiten" den eben erschienen Band "Westberlin - ein sexuelles Porträt", der an diesem Donnerstag (2.9.2021, 17:30 Uhr) in der Urania in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt wird.
Der gebürtige Westberliner Salih Alexander Wolter rezensiert in den "Rosigen Zeiten" den eben erschienen Band "Westberlin - ein sexuelles Porträt", der an diesem Donnerstag (2.9.2021, 17:30 Uhr) in der Urania in Berlin der Öffentlichkeit vorgestellt wird. Salih Alexander Wolter stellt heraus:
Das große Verdienst des Bandes ist es, diese Erzählung von [schwul-lesbischer] Emanzipation im umzäunten Soziotop mit zwei anderen zu flankieren und damit auch zu relativieren, die sich dort gleichzeitig abspielten – und alle drei überschnitten einander punktuell, wenn auch aus heutiger Sicht nicht genug, um gemeinsam gesellschaftsverändernd werden zu können. Parallel zur schwul-lesbischen Sichtbarwerdung kam es in Westberlin nämlich zu einer bis heute international wirksamen Selbstverständigung der trans* Community [...] Das Gleiche gilt für die auch literarisch bestechenden Originaltexte von DJ İpek İpekçioğlu, die das Format Gayhane mit kreierte, den „Neuen Wilden“ Maler, Schauspieler und Bauchtänzer Cihangir Gümüştürkmen, Gladt-Mitbegründer Koray Yılmaz-Günay, der hier seine Kindheit in einer Art Kreuzberger Niemandsland schildert, u. a., die das von „uns“ seinerzeit viel zu wenig beachtete Wachsen einer queermigrantischen Szene beschreiben – selbst schuld, dass wir es dafür anschließend mit „Deutschland“ zu tun bekamen!
Insgesamt empfiehlt Salih Alexander Wolter die Lektüre, auch wenn er kritisch anmerkt, dass "es sinnvoll gewesen [wäre], wenn der Herausgeber in seiner Einleitung in ein, zwei Absätzen sachlich die besondere Situation dieses völkerrechtlich einmaligen Gebildes „Westberlin“ dargestellt hätte". Zur ganzen Rezension geht es hier: S. 34/34; bei der Buchvorstellung in der Urania könnt ihr und können Sie sich zudem ein Bild machen. Alle Interessierten sind herzlich eingeladen (es wird ein Eintritt verlankt)!
Anlässlich des CSD in Magdeburg hat sich verqueert.de den Koalitionsvertrag von CDU-SPD-FDP in Sachsen-Anhalt aus queerer Perspektive angesehen: Ein lesenswerter Beitrag. Er findet sich hier:
Neben einer frischen, sprudelnden Autobiografie und einem fundierten Einblick in juristische und biologische Belange, nimmt uns Nora Eckert mit auf einen Streifzug durch Westberlin.
Fröhlich, aber auch mit Ernst, berichtet Nora Eckert in ihrer gerade erschienenen Autobiografie „Wie alle, nur anders: Ein transsexuelles Leben in Berlin“ von ihrem Lebensweg als trans* Frau. Aus einer Arbeiterfamilie kommend, geht sie über Gießen – wo sie ihre Ausbildung macht – nach West-Berlin / Westberlin. Dort kommt sie rasch an und mag die Stadt mit all ihren Kanten. Die Stadt lässt Eckert so leben, wie sie will und wie sie ist. Ist zwar auch dort das Leben als Trans* nicht immer leicht – etwa, wenn es um die Arbeitsplatzsuche geht –, so ergeben sich doch Möglichkeiten: Nora Eckert findet eine Stelle im Chez Romy Haag, in dem Travestieclub schlechthin! Später ist sie dann langjährig als Kulturkritikerin tätig. Schwierigkeiten bereitet ihr auch das Transsexuellengesetz (TSG), das leider auch bis heute noch nicht so revidiert ist, dass Menschen ohne Hürden Vornamen- und Personenstandsänderung vornehmen lassen können.
Neben einer frischen, sprudelnden Autobiografie und einem fundierten Einblick in juristische und biologische Belange, nimmt uns Nora Eckert mit auf einen Streifzug durch Westberlin, durch eine Stadt, die Menschen Zuflucht vor der Bundeswehr bot (weil das Militär dort nicht einziehen durfte), mit einem ungeheuren kulturellen Leben und wo man den Winter riechen konnte. Die „Berliner Schnauze“ und das schnörkellose „Antipathos“ der Berliner*innen findet Nora Eckert von Anfang an vertraut. Und so ist der Band nicht nur eine lesenswerte Autobiografie, sondern auch eine Liebeserklärung an das vergangene Berlin. Lesen!
Nora Eckert: Wie alle, nur anders: Ein transsexuelles Leben in Berlin. München: C.H. Beck. Verlagslink.
Alois Kösters: So greift er gerade – und darauf zielt sein Beitrag – eine der engagiertesten der Einrichtungen an, die sich für lesbische, schwule, bi, trans* und inter* Personen unterschiedlichen Alters einsetzen.
„Qualität spielt
keine Rolle“ (Ausgabe vom 13.2.2020, S. 4), behauptet Alois Kösters in der Magdeburger Volksstimme vom 13.2.2020.
Bereits im Jahr 2016 hatte er in dem Blatt, dessen Chefredakteur er ist, einen
Angriff gegen Gender forciert, mit ähnlich wenig Belegen wie heute. In seinem aktuellen
Beitrag postuliert er ein „Füllhorn“, das allen voran aus Brüssel gefüllt
werde, um Gender-Reflexion in
der Gesellschaft voranzubringen. „Zahlreiche Forschungsprojekte laufen an den
Universitäten. Überall werden Seminare angeboten“ – meint Kösters, obwohl die
groß angelegte Studie „Sexuelle Bildung für das Lehramt“, für die mehr als
2.700 Lehrkräfte und Lehramtsstudierende insbesondere aus Sachsen-Anhalt und
Sachsen befragt wurden, gerade erst festgestellt hat, dass nur etwa zehn Prozent
der Lehrkräfte einige Lehrinhalte zu Sexueller Bildung (Sexualpädagogik) hatten
und nur fünf Prozent von Inhalten zur Prävention sexualisierter Gewalt
profitieren konnten. In der Sozialen Arbeit sieht es nicht anders aus. Das
bedeutet: Aktuell leisten wir uns in der Bundesrepublik Deutschland, dass
Fachkräfte nicht oder zu schlecht ausgebildet sind, um sexualisierter Gewalt
vorzubeugen und die geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung von Kindern
und Jugendlichen zu fördern. Das sollte ein Skandal sein! Aber der Volksstimme-Chefredakteur macht lieber
Stimmung gegen die EU und schürt Feindschaft gegen kleine Projekte, bei denen
viele Leute ehrenamtlich arbeiten und nur wenige in geringem Umfang über meist
befristete Stellen finanziert sind. So greift er gerade – und darauf zielt sein
Beitrag – eine der engagiertesten der Einrichtungen an, die sich für lesbische,
schwule, bi, trans* und inter* Personen unterschiedlichen Alters einsetzen.
Kösters schreibt, nachdem er sich über vermeintlich überbordende EU-Förderung verbreitet
hat: „Wer zum Beispiel einige geförderte Veröffentlichungen des ‚Kompetenzzentrums
geschlechtergerechte Kinder- und Jugendhilfe KgKJH‘ prüft, stellt fest, dass
Qualität oft keine Rolle mehr spielt.“
Warum diese Attacke,
die ohne Beleg oder irgendeine Form der Fundierung auskommt? Der Volksstimme-Mann hätte sich schließlich
auch die Mühe machen können, die eine oder andere Publikation des
Kompetenzzentrums zu rezensieren, dessen Leiterin im Themenfeld immerhin
promoviert ist und an Hochschulen lehrt. Und das Kompetenzzentrum, die Leiterin
und die weitern Angestellten machen wichtige Arbeit: Noch immer ist es so, dass
zwei Drittel der jungen Lesben und Schwulen (unter 18 Jahren) von physischer
und psychischer Gewalt berichten, die sie erlebt haben. Etwa die Hälfte von ihnen
nutzen problematische Strategien – etwa überhöhten Substanzkonsum –, um mit
diesen Erfahrungen fertig zu werden. Etwa 20 Prozent der lesbischen und
schwulen Jugendlichen und etwa 40 Prozent der trans* und inter* Jugendlichen
geben an, im Alter von 18 Jahren mindestens einen Suizidversuch unternommen zu
haben. Das Kompetenzzentrums geschlechtergerechte Kinder- und Jugendhilfe
KgKJH leistet durch seine Bildungsarbeit hier wichtige Arbeit, die bedeutsam
ist, damit Jugendlichen das Leben lebenswert erscheint. Und sei es nur, dass
der richtige Flyer bei genau der richtigen Person liegen bleibt.
Alois Kösters mimt
„alte Schule“ – allerdings ohne die Höflichkeiten, die seinerzeit üblich waren.
Selbstverständlich sollte es sein, eine bewusst geführte Attacke zu fundieren,
Belege zu bringen, sich auseinanderzusetzen. Das scheint der Magdeburger
Volksstimme offenbar unnötig. Hier spottet man ohne Kenntnis und Beleg über
andere – die nicht die medialen Mittel haben. Damit kommt die hässlichste Seite
Sachsen-Anhalts zum Vorschein – der zum Glück eine andere gegenüber steht: unter
anderem die exzellenten Medienkoffer „Geschlechtervielfalt und Vielfalt der Familienformen“,
ein Projekt, das vom CDU-geführten Ministerium für Justiz und Gleichstellung
vorangetrieben und vom KgKJH verantwortet wird. Auch hier hat das KgKJH,
wie bei anderen Projekten, einen wissenschaftlichen Projektbeirat hinzugezogen,
auch um Attacken begegnen zu können, die bei einem Anteil von 25 Prozent für
die rechtsextreme AfD im Landtag leider nicht ausbleiben. Etwas Gutes hat es:
So ist das Kompetenzzentrums geschlechtergerechte Kinder- und Jugendhilfe gegen
allzu plumpe populistische Kritik abgesichert.
Dank einer Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sind jetzt zahlreiche Bücher der Buchreihe "Angewandte Sexualwissenschaft" sowohl als gedrucktes Buch als auch als kostenloses Open-Access-Buch erhältlich.
Dank einer Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sind jetzt zahlreiche Bücher der Buchreihe "Angewandte Sexualwissenschaft" sowohl als gedrucktes Buch als auch als kostenloses Open-Access-Buch erhältlich.
Julia Sparmann: Körperorientierte Ansätze für die Sexuelle Bildung junger
Frauen - Eine interdisziplinäre Einführung
Link: https://www.psychosozial-verlag.de/6846
Lena Lache: Sexualität und Autismus - Die Bedeutung von Kommunikation und
Sprache für die sexuelle Entwicklung
Link: https://www.psychosozial-verlag.de/6847
Alexander Naß, Silvia Rentzsch, Johanna Rödenbeck, Monika Deinbeck (Hg.): Geschlechtliche Vielfalt (er)leben - Trans*- und Intergeschlechtlichkeit in Kindheit, Adoleszenz und jungem Erwachsenenalter Link: https://www.psychosozial-verlag.de/7231
Herzlichen Dank an den Psychosozial-Verlag für die stetig gute
Zusammenarbeit und die Ermöglichung des Open-Access-Zugangs. Und Ihnen mit den
Büchern viele gute Lesestunden und interessante Gedanken - egal ob Sie die
gedruckte oder die Open-Access-Ausgabe nutzen wollen!
Zwei aktuelle Bücher wenden sich Fragen von
Dominanz und Marginalisierung zu. Dabei ist Trans* ein zentraler Fokus, der im
Band von Mika Murstein in Verwobenheit mit anderen Herrschaftskategorien
gedacht wird.
In dem Buch „Trans. Frau. Sein. – Aspekte
geschlechtlicher Marginalisierung“ geht Felicia Ewert Diskriminierungen nach, denen Frauen, die auch trans*
sind, gesellschaftlich unterliegen. Dabei nimmt sie die Leser*innen von Anfang
an mit, auch diejenigen, die sich noch nicht so intensiv mit Fragen um Trans*-
und Cis-Geschlechtlichkeit befasst haben. So erläutert Ewert zunächst ihren
Zugang zum Thema und die verwendeten Begriffe, um sich danach Fragen zuzuwenden,
wie Geschlecht in der deutschen Gesellschaft gedacht wird. Dabei erläutert sie,
wie oft ein Biologismus vorherrscht, mit dem schon rechtlich – gleich nach der
Geburt – auf ein Geschlecht erkannt wird. Im alltäglichen Umgang in der
Gesellschaft wirke dieser Biologismus fort: So suchten Menschen im alltäglichen
Umgang nach Kennzeichen an den Menschen, mit denen sie Umgang haben, um sicher
ein Geschlecht erkennen zu können. Dabei nutzten sie insbesondere körperliche
Merkmale, um Sicherheit zu erlangen. Möglichkeiten geschlechtlicher
Selbstbestimmung werden so begrenzt, wie Ewert plausibel darlegt: Menschen
müssen stets erst gegen die stereotypen Vorannahmen angehen, bevor eine
Offenheit beim gegenüber entsteht, die tatsächliche individuelle
Geschlechtsidentität wahrnehmen zu wollen und zu können. Ausführlicher erläutert
die Autorin die medizinisch-juristische Begutachtungspraxis, der Personen nach
dem Transsexuellengesetz unterzogen werden, bis sie auch staatlich und rechtlich
in ihrem eigenen Geschlecht anerkannt werden. Ewert stellt dabei auch dar,
welchen Einfluss diese Begutachtungspraxis auf die Darstellungs- und
Sprechweisen von trans* Personen haben.
Dieser gesellschaftliche
Rahmen, der die Ordnungskategorie „Geschlecht“ in der deutschen Gesellschaft im
Blick hat, wird von der Autorin in Richtung von Diskriminierungserfahrungen
insbesondere von Frauen, die auch trans* sind, erweitert. Dabei geht es u. a. um
Erfahrungen im akademischen Betrieb, bei der Toilettennutzung, aber auch in
linken und feministischen Kontexten. So herrschten auch in einigen aktuellen
feministischen Strömungen deutlich trans*-feindliche Setzungen vor. Das gehe oft
insbesondere mit einem unreflektierten Bezug auf biologischen Essentialismus
zusammen, mit dem die Unterschiedlichkeit der Frauen untereinander negiert
werde.
Ewert legt damit ein
starkes und auch kritisches Buch vor, dass einerseits Diskussionen anregen soll.
Andererseits soll es Frauen stärken, die auch trans* sind und allen anderen Leser*innen
einen Zugang ermöglichen, Marginalisierungserfahrungen von Trans*-Personen und
deren Kämpfe gegen Diskriminierungen zu verstehen – und diese zu unterstützen.
Mika Murstein zeigt im Buch „I'm a queerfeminist
cyborg, that's okay: Gedankensammlung zu Anti/Ableismus“ die Verwobenheit
von Herrschaftsverhältnissen auf. Dabei fokussiert Murstein auf Be_Hinderung. Mit
der Großschreibung von „Hinderung“ macht sie*er deutlich, dass die Gesellschaft
Menschen „hindert“, ihnen also Grundrechte verwehrt. In den aktuellen
Diskussionen um Be_Hinderung fehle bisher vollkommen „die Vorstellung von Be_Hinderung
als andauerndem und lebenswertem Zustand […]. Als erstrebenswerte Zukunft gilt
meist die Zukunft ohne Behinderung.“ (S. 11f.) Als Gegenmodell formuliert Murstein
den Ansatz der „Crip future“:
„Crip future ist eine Zukunft, in der Behinderung und ein lebenswertes, erfülltes Leben, wie es schon heute be_hinderte Menschen führen, nicht als Gegensatz konstruiert werden. In meiner Vision von crip future besitzen wir alle Werkzeuge und Hilfsmittel, die wir brauchen, die Teilhabe, Partizipation und Mobilität bedeuten würden. Diese Werkzeuge, Technik und Hilfsmittel gibt es schon reichlich, aber in der Gegenwart ist der Zugang zu ihnen beschränkt. […] Hilfsmittel sind cool. Nur leider nicht im herrschenden Diskurs. Zum Beispiel sagt die Redensart „Das ist doch nur eine Krücke!“ viel über die Sicht auf gesundheitliche Einschränkungen aus. Sie spiegelt die Wahrnehmung, es sei eine Schwäche, eine Krücke zu brauchen, wider. Dabei ist eine Krücke hilfreich, weil sie Halt und Mobilität bedeutet, genauso wie eins nicht an den Rollstuhl ‚gefesselt‘ ist, sondern dieser ermöglicht, von A nach B zu kommen und an der Welt teilzuhaben.“ (Ebd.)
Ausführlicher geht Murstein auf psychische Erkrankungen ein. Die Einschränkungen von Menschen mit psychischen Erkrankungen werden in der Gesellschaft oft nicht gesehen oder, sofern sie gesehen werden, werden sie aufgeladen und teilweise sogar Berufsverbote etwa gegen Menschen, die an Depressionen leiden, diskutiert – anstatt Voraussetzungen zu schaffen, in denen ein Mensch gut mit dieser Erkrankung umgehen kann. Wie negativ psychische Erkrankungen gesellschaftlich besetzt sind, macht Murstein mit Blick auf Debatten nach Amokläufen deutlich:
„Nach sogenannten Amokläufen meist weißer Männer wird schnell nach einer psychischen Erkrankung und Ähnlichem als Auslöser gesucht. Da kann jemensch vorher ellenlange hasserfüllte Pamphlete ins Internet gestellt haben, plötzlich ist die Person, ohne vorher jemals diagnostiziert worden zu sein, angeblich ‚geisteskrank‘, ‚persönlichkeitsgestört‘ oder, auch sehr beliebt: ‚autistisch‘. Für Betroffene der disability community (Gemeinschaft) ist es immer sehr furchtbar, wenn eine solche Tat passiert und wenn bei der darauffolgenden Berichterstattung auf diese ableistischen Tropen (Sprachfiguren) zurückgegriffen wird.“ (S. 34)
Bereits aus den kurzen Zitaten
wird die sensible Sprachverwendung deutlich, die die*der Autor*in nutzt: Gut
lesbar und unaufdringlich werden Erläuterungen gegeben; Begriffe werden so
genutzt, dass sie klar sind und gleichzeitig nicht diskriminieren. Be_Hinderung
in Gesellschaft wird nicht allein, sondern verwoben mit anderen
gesellschaftlichen Strukturkategorien – Herrschaftskategorien – betrachtet.
Dabei sind Rassismus, das Geschlechter- und das Klassenverhältnis im Blick. Im
besten Sinne wird Intersektionalität vorgestellt und erläutert und dabei die
einschlägige Literatur eingewoben – so u.a. Edward Said, Kimberlé Crenshaw, Étienne
Balibar, Maisha Eggers, May Ayim, Grada Kilomba und Christiane Hutson. Es
werden historische Perspektiven auf Kolonialismus, die deutsche „Rasseforschung“
und sozialdarwinistische / eugenische Wissenschaft eröffnet.
Neben der
gesamtgesellschaftlichen Einordnung, kommt Murstein in den weiteren Kapiteln
auf die ganz konkreten Auswirkungen der Herrschaftskategorien – in ihrer
Verwobenheit – auf Menschen zu sprechen. Dabei bringt sie*er auch eigene
biografische Erfahrungen ein. Für das Verständnis der Herrschaftskategorien und
ihrer Wirkung auf ganz konkrete Menschen hat Murstein überdies ein Interview
mit der* Aktivist*in und Schriftsteller*in SchwarzRund geführt und in den Band
eingebunden, das ebenfalls sehr lesenswert ist. Abschließend werden „reaktionäre
Diskurse“ (S. 410) gewürdigt, die gerade hinter die aktuellen intersektional
entwickelten kapitalismuskritischen Analysen zurück und weiße Menschen als Standard belassen wollen. Wohltuend ist es, dass
Murstein – wie auch Ewert im zuvor angeführten Band – sich als von
Diskriminierungen und Gewalt betroffen benennen, aber gleichzeitig deutlich
machen, dass sie in Bezug auf Kolonialismus und Rassismus als weiße Personen zur privilegierten Seite
zu zählen sind. Solche Analyse und (Selbst-)Reflexion ist für mehr Arbeiten
wünschenswert!
Kurz: Bei „I'm a
queerfeminist cyborg, that's okay“ handelt es sich um einen äußerst gelungenen Band,
der gut lesbar ist und viele Perspektiven eröffnet. Ihm ist ein großes Publikum
zu wünschen.
Sehr gern weise ich auf weitere Buchrezensionen hin, die ich in den vergangenen Wochen veröffentlicht habe:
(1) "Geschlecht im flexibilisierten Kapitalismus? Potenziale von Geschlechter- und Gesellschaftstheorien"
von Ilse Lenz, Sabine Evertz und Saida Ressel (Hg.)
Auf: socialnet, 15.3.2018 (Online).
(2) "Antisexistische Awareness. Ein Handbuch"
von Ann Wiesental
Auf: socialnet, 13.3.2018 (Online).
(3) "Varianten der Sexualität. Studien in Ost- und Westdeutschland"
von Kurt Starke
Auf: socialnet, 13.3.2018 (Online).
(4) "Widersprüche des Medizinischen. Eine wissenssoziologische Studie zu Konzepten der 'Transsexualität'"
von Katharina Jacke
Auf: socialnet, 7.3.2018 (Online).
(5) "Politiken in Bewegung. Die Emanzipation Homosexueller im 20. Jahrhundert"
von Andreas Pretzel, Volker Weiß (Hg.)
Auf: socialnet, 26.2.2018 (Online).
(6) "Expert_innen des Geschlechts? Zum Wissen über Inter*- und Trans*-Themen"
von Kim Scheunemann
Auf: socialnet, 7.2.2018 (Online).
Der "Dritte deutsche Männergesundheitsbericht - Sexualität von Männern" ist nun erschienen und kann über jede Buchhandlung und den Verlag bezogen werden.
Der Bericht berücksichtigt facettenreich die Lebenslagen von Männern. Gewonnen hat der Bericht von der interdisziplinären Verzahnung soziologischer und medizinischer Perspektiven, die durch die Kooperation von Stiftung Männergesundheit und Hochschule Merseburg möglich wurde. Dabei tragen die Beiträge auch den aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen Rechnung, in denen digitale Medien eine größere Rolle einnehmen und sich Männlichkeiten diversifizieren. So werden neben den klassisch im Berichtswesen thematisierten Männlichkeiten auch Trans*- und Inter*-Männlichkeiten betrachtet und im Hinblick auf gelingende Sexualität von Männern dargestellt.
Dritter deutscher Männergesundheitsbericht: Sexualität von Männern
von Doris Bardehle, Heinz-Jürgen Voß, Theodor Klotz, Bettina Staudenmeyer, Stiftung Männergesundheit (Hg.)
Psychosozial-Verlag, Gießen
2017, 449 Seiten, 39,90 Euro
ISBN: 978-3-8379-2683-5 Nun frei zum Download (OPEN ACCESS, PDF-Datei): Psychosozial-Verlag.
Informationen beim Verlag: hier.
Inhaltsverzeichnis und Leseprobe: hier.
Übersicht über erschienene Presseresonanz und Rezensionen: hier.
Die Vorstellung des Männergesundheitsberichts findet bei Veranstaltungen am 3. Mai in Berlin (Bundespressekonferenz, für Journalist_innen) und am 4. Mai in Merseburg (öffentlich) statt.